Erkenntnistheorie

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Keyword: Erkenntnistheorie

Links: > Bewusstseins-Evolution > Bewusstseins-Mutation > Geist > Hermeneutik > Konkretismus > Positivismus > Tiefenpsychologie > Weltbild, archaisches

Definition: Die Erkenntnistheorie ist die Lehre vom Wesen, von den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Erkennens. Begründet worden ist sie von I. Kant (1724-1804), der feststellt, dass zwischen Welt und Weltbild zu unterscheiden ist. Für die Möglichkeit, sich ein Bild von der Welt zu machen, setzt er zwei Marken: zum einen, dass die Art und Weise, wie wir die Welt erkennen, durch angeborene Strukturen bestimmt wird; zum andern, dass wir die Welt so, wie sie 'in Wirklichkeit' ist, nie werden erkennen können. Bis ins 20. Jh. ist Erkenntnistheorie Domäne der akademischen Philosophie gewesen. Mit dem Aufkommen der modernen Biologie und - in deren Rahmen - der Kognitionswissenschaften (> Kognitive Psychologie) wird sie dann auf den Boden der Empirie heruntergeholt. In der Hand der akademischen Philosophie verbleibt nur eine eingeschränkte Form erkenntnistheoretischen Bemühens: die > Wissenschaftstheorie. Bei dieser wird über Methoden und Ziele empirischer Wissenschaften reflektiert und danach gefragt, was für ein Segment die einzelnen Disziplinen mit ihren spezifischen Methoden aus der Wirklichkeit herausschneiden. Allerdings ist der Horizont der Wissenschaftstheoretiker lange Zeit eingeschränkt geblieben auf positivistisch-empirische Disziplinen. Dass mit der Tiefenpsychologie ein neuer Typus empirischer Wissenschaft entstanden ist, ist nicht zur Kenntnis genommen worden. Die Tiefenpsychologie wird als unwissenschaftlich abqualifiziert. Um die Wissenschaftlichkeit der Tiefenpsychologie zu begründen, muss man den Blickwinkel erweitern und die > Bewusstseins-Evolution ins Auge fassen. In deren Verlauf sind nämlich auf dem Entwicklungszweig, der zu uns führt, drei unterschiedlichen Arten des Selbst-und Weltverstehens zu beobachten: die archaische (> Weltsicht, archaische), die positivistisch-materialistische und die neue, die den zweiten Schritt der > Bewusstseins-Mutation ermöglichte. Diesen drei Arten des Selbst-und Weltverstehens liegen drei grundverschiedene Auffassungen des Wahrnehmungsvermögens zugrunde, weshalb aus ihnen drei grundverschiedene Typen von Wissenschaft entstanden sind: die Theologie, die positivistischen Wissenschaften und die Tiefenpsychologie.

Information: Das erkenntnistheoretische Fundament der Theologie ist der für die archaische Weltsicht charakteristische Begriff 'übernatürliche Offenbarung': die Vorstellung, Gott habe dem Menschen auf übernatürliche Weise seinen Willen sowie 'Heilstatsachen' mitgeteilt. Ihre Aufgabe sieht die Theologie darin, das in 'heiligen' Schriften aufgezeichnete 'Offenbarungsgut' auszulegen bzw. zu deuten. Sie kann deshalb als hermeneutische Wissenschaft vom archaischen Typ bezeichnet werden. Mit dem Beginn der > Bewusstseins-Mutation entstehen empirische Wissenschaften durch Integration mehrerer Errungenschaften der > Bewusstseins-Evolution zu einem effizienten geistigen Instrumentarium. Während sich die Theologie weiterhin mit dem 'Jenseits' befasst, befassen sich diese mit dem, was man bei archaischer Weltsicht 'Diesseits' nennt: zum einen mit dem, was wir heute als Natur bezeichnen, zum andern mit den Schöpfungen und Taten des Menschen: der Kultur. Entsprechend zweigen sich die empirischen Wissenschaften während der ersten Phase der Bewusstsein-Mutation in Natur- und Kultur/Geistes-Wissenschaften auf. Bis zum Beginn der zweiten Phase gilt für alle empirischen Disziplinen das Ethos des methodischen Positivismus: Nur das darf als wissenschaftlich erwiesen angenommen werden, was mit den Sinnen (auch den apparativ oder durch indirekte Methoden erweiterten) nachgewiesen werden kann. Diese geistige Askese ist damals nötig, um sich den noch im Mittelalter ausgiebig geübten 'Wissensgewinn' durch Fantasieren und Spekulieren abzugewöhnen. Unter dem Einfluss der Aufklärungsphilosophie entwickelt sich dann der methodische Positivismus zum ideologischen: zur expliziten Aussage, was mit den Sinnen nicht nachgewiesen werden kann, existiere nicht. Wegen ihres eingeschränkten Empiriebegriffes (Begriff des Wahrnehmbaren) können alle, vor der Entdeckung des Unbewussten zustande gekommenen, Disziplinen als empirische Wissenschaften vom positivistischen Typ bezeichnet werden.

Durch die Entdeckung des Unbewussten wird der bis dahin gültige Empiriebegriff erweitert. Indem Freud nachweist, dass Träume nicht vom Ich gemacht, sondern von diesem wahrgenommen werden, ist nämlich erwiesen, dass auch Information, die nicht durch die Sinneskanäle fließt, ins Bewusstsein gelangt. Der Tiefenpsychologie liegt somit ein breiteres erkenntnistheoretisches Fundament zugrunde als den positivistischen Wissenschaften. Mit ihr ist deshalb nicht einfach ein neuer Ast am Baum der empirischen Wissenschaften entstanden, sondern ein neuer Typus empirischer Wissenschaft. Die von Freud nachgewiesene Art von Wahrnehmung, mit der Wachfantasien, Träume und Visionen ins Bewusstsein gelangen, wird - um sie von der Sinneswahrnehmung zu unterscheiden - innere Wahrnehmung genannt. Im Grunde genommen wird damit etwas wieder entdeckt, das schon bei archaischer Weltsicht bekannt gewesen ist. In der christlichen spirituellen Tradition etwa wird zwischen einem Sehen mit den Augen des Leibes und einem Sehen mit den Augen der Seele unterschieden. Unter dem Sehen mit den Augen des Leibes versteht man das, was wir heute Sinneswahrnehmung nennen, unter dem Sehen mit den Augen der Seele das, was man in großen Träumen und Visionen wahrnimmt. Allerdings versteht (apperzipiert) man auf dieser Ebene das 'mit den Augen der Seele' Geschaute (Perzipierte) noch konkretistisch (> Konkretismus): als außen befindliche, zu selbstständiger Existenz fähige Personen und Dinge. Aus dieser, für phylogenetisch noch wenig entwickeltes Bewusstsein, charakteristischen Art von Apperzeption des innerlich Wahrgenommenen ist die archaische Weltsicht hervorgegangen. Der Wandel von der konkretistischen zur bildsprachlichen Apperzeption macht den Kern der Bewusstseins-Mutation aus: jenes Evolutionsschritts des Bewusstseins, bei dem die 'jenseitige Welt' des archaischen Menschen in die menschliche Seele 'hinein geklappt' worden ist.

keine

Literatur: Obrist, W. (1999): Die Natur - Quelle von Ethik und Sinn; Obrist, W. (1980): Die Mutation des Bewusstseins; Obrist, W. (1985): Theoriebildung in der Tiefenpsychologie: Defizit, Notwendigkeit und Möglichkeiten.

Autor: W. Obrist