Prozess, dialektischer: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Prozess, dialektischer

Links: > Analyse > Beziehung, therapeutische > Beziehungsquaternio > Gegensatz > Polarität > Synthese

Definition: Dialektik (griech.: innere Gegensätzlichkeit, Kunst der Gesprächsführung) bezeichnet eine philosophische Arbeitsmethode, die ihre Erkenntnisse in der Synthese von gegensätzlichen Standpunkten zu gewinnen sucht (These - Antithese - Synthese). Die Ausgangsposition wird in ihre immanenten Gegensätze (> Gegensatz > Polarität) aufgespalten, um in ihrer > Synthese zu einer Erkenntnis auf einem höheren Niveau zu gelangen. G. Hegel versteht die Dialektik als die wissenschaftliche Anwendung einer Dynamik, die bereits in der Natur des Denkens begründet ist. Sie ist die Dynamik, die als geistige Wirklichkeit allem und somit auch dem Denken zugrunde liegt. Im Anschluss an F. Schleiermacher und Hegel ist eine Form der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelt worden, die den dialektischen Charakter der pädagogischen Wirklichkeit betont, vor allem: dialogische Natur des Bildungsgesprächs; die Verschränkung der Strukturen von Subjekt und Objekt im pädagogischen Geschehen; die Grundproblematik der pädagogischen Theorie, die ihre Anwendung sowohl zum Gegenstand wie auch zur Voraussetzung hat. Diese für die Pädagogik herausgearbeiteten Voraussetzungen der Dialektik gelten im Wesentlichen auch für die tiefenpsychologische Theorie und Praxis. Auch die Tiefenpsychologie hat sich selbst zum Gegenstand und zugleich zur Voraussetzung. Der therapeutische Prozess ist ein dialogisches Geschehen, in dem eine Begegnung und Verschränkung der psychischen Gegebenheiten der beiden Beteiligten stattfindet. In ihm sind nach C. G. Jung zwei psychische Systeme wechselseitig aufeinander bezogen. Damit ist die Voraussetzung gegeben, die therapeutische Beziehung (> Beziehung, therapeutische) als dialektischen Prozess zu betrachten (vgl. Jung, GW 16, § 8).

Für Jung ist "die oberste Regel eines dialektischen Verfahrens, dass die Individualität des Kranken dieselbe Würde und Daseinsberechtigung wie die des Arztes hat". Daraus folgt, dass "alle individuellen Entwicklungen im Patienten als gültig zu betrachten sind". (Jung, GW 16, §11) Im dialektischen Prozess, in dem der Therapeut möglichst voraussetzungslos, d. h. nicht manipulativ sein soll, was sicherlich nur annäherungsweise erreicht werden kann, verändern sich beide Beteiligten, Patient und Therapeut (> Übertragung/Gegenübertragung). Die dialektische Haltung des Therapeuten soll eine Heilung ermöglichen, die nicht eine vorgegebene Veränderung der Persönlichkeit des Patienten anstrebt, sondern einen Prozess in Gang setzt, durch den der Patient zu dem werden kann, "was er eigentlich ist". (Jung, GW 16, § 11)

Information: Dieses "Werde, der du bist" knüpft an den auf Aristoteles zurückgehenden Begriff der Entelechie an (Entelechie, griech. en: in; griech. telos: Ziel; griech echein: haben, also "was sein Ziel in sich selbst hat“). In der Analytischen Psychologie setzt diese Vorstellung die Annahme eines potenziell zielgerichteten > [[Selbst]] voraus. (> Finalität) Der durch die therapeutische Beziehung in Gang kommende Prozess umfasst nicht nur die Dialektik der unterschiedlichen psychischen Voraussetzungen von Patient und Therapeut, sondern setzt auch einen dialektischen Prozess in der Psyche des Patienten (und des Therapeuten) in Gang, bewirkt durch die Antinomien und Widersprüche der Psyche. Mit den Worten Jungs: "Jede.. Behandlung (stellt) einen individuellen dialektischen Prozess (dar), an dem der Arzt so viel beteiligt ist als der Patient." (Jung, GW 16, § 239) und: "Die dialektische Methode ist für die Psychotherapie sehr wichtig. Da die Neurose eine Spaltung der Persönlichkeit darstellt, ist man immer auch mit dem unbewussten Gegensatz oder Visavis konfrontiert und muss mit diesen Größen rechnen." (Briefe 3, S. 246)

Die Polarität der Psyche und die daraus folgende Dynamik erklärt Jung, indem er Anleihe bei dem naturwissenschaftlichen Energieprinzip nimmt, das besagt, dass zwischen Gegensätzen Spannung entsteht, die nach Ausgleich strebt > Enantiodromie. Nach Jung führt der dialektische Prozess, der sich in Fantasien und Träumen abbildet, in der Synthese von These und Antithese psychischer Gegensätze zu Bildern auf einer jeweils höheren Stufe. (Jung, GW 7, § 217) Dies gilt vor allem für den Prozess der > [[Individuation. Ziel der Individuation ist die Vereinigung der Gegensätze (> Coniunctio). Jung wird in diesem Zusammenhang Harmonisierung vorgeworfen. Vor allem W. Giegerich, der sich mit der hegelschen Definition der Dialektik beschäftigt hat, betont in diesem Zusammenhang, dass sich die psychischen Gegensätze in der Vereinigung (> Syzygie), nicht gegenseitig aufheben und neutralisieren. Er spricht von der Dynamik der "Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze" (vgl. Lang, 1994).

Aus dem dialektischen Ansatz der therapeutischen Beziehung ergeben sich bestimmte Voraussetzungen für das therapeutische > Set, das > Setting und das therapeutische Vorgehen. Der dialektische Prozess hat die Einbeziehung der synthetischen Methode zur Voraussetzung, im Gegensatz zum rein analytischen und reduktiven Vorgehen (> Reduktion versus Synthese). Eine weitere wichtige Voraussetzung für die therapeutische Beziehung ist, dass sich der Therapeut einer Analyse unterzogen haben muss. Jung ist der erste Psychoanalytiker gewesen, der für auszubildende Psychotherapeuten die > Lehranalyse fordert.

Autor: R. Daniel