Ganzheit

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Keyword: Ganzheit

Links: > Sinn > Einheitswirklichkeit > Ganzwerdung > Holon > Mandala > Schöpferisches > Selbst > Unus mundus

Definition: Unter Ganzheit wird allgemein Vollständigkeit, Vollkommenheit, Geschlossenheit, Unversehrtheit, Eigengesetzlichkeit einer Sache verstanden, in der Philosophie wird manchmal auch von Totalität gesprochen. Aristoteles formuliert, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Im Ganzen sind zwar Teile erkennbar, in ihnen wirkt aber nicht nur die Eigenart eines Teils, sondern immer auch die des Ganzen. In der abendländischen Philosophie, in vielen östlichen Traditionen und in der westlichen > Mystik und > Hermetik sind Ganzheitsvorstellungen und -modelle über den Menschen und das menschliche Leben, über Natur, Geist, Kosmos und Gott weit verbreitet. Im 20. Jahrhundert entwickeln sich verstärkt ganzheitliche Ansätze in der Psychologie und Psychotherapie, z. B. in der Ganzheitspsychologie und der Gestaltpsychologie (> Gesprächspsychotherapie > Gestalttherapie > Humanistische Psychologie > Integrale Psychologie, > Integrative Psychologie/Psychotherapie > Transpersonale Psychologie), in den Sozial- und den Naturwissenschaften, insbesondere in Biologie, Medizin und Physik. Eine Ganzheitssicht auf die menschliche Existenz ist zur Zeit C. G. Jungs eine sich andeutende Gegenbewegung auf eine einseitig rationalistische, analysierende, reduzierende, entmystifizierende, naturalistisch-ernüchternde aufklärerische und positivistische Wissenschaftlichkeit (> Erkenntnistheorie > Positivismus > Wissenschaftstheorie). Die seit der Romantik wieder auftauchenden und sich durchsetzenden Ganzheitsfantasien und -sehnsüchte der Menschen bedeuten das Ende der Herrschaft der Vernunft und des Glaubens, das Böse (> Böses) könne durch vernünftiges Verhalten und Aufklärung in Zaum gehalten werden. Gerade für diesen im 20. Jahrhundert so leidvoll und katastrophal erlebten Gegensatz von Vernunft und Emotion, von Gut und Böse und von Sinn und Sinnlosigkeit sucht Jung eine ganzheitliche statt einer dualistischen Auffassung (> Dualismus > Monismus).

Information: Die Vorstellung der Ganzheit bestimmt das Bild Jungs vom Menschen und der menschlichen Existenz. Sie ist untrennbar mit seinen Vorstellungen der > Individuation und des > Selbst als Ursprung und Ziel der menschlichen Entwicklung, der Coniunctio (> Coniunctio/Mysterium Coniunctionis) oder des > Unus mundus (> Einheitswirklichkeit > Holon) verbunden.

Das Selbst- und Ganzheitskonzept Jungs wird häufig kritisiert, weil es scheinbar undifferenziert, unwissenschaftlich, unkritisch und unmoralisch ist, allem einen Sinn zu geben vermag – auch dem Unsinn und dem absolut Schlechten -, mit Paradoxität (> Paradoxon/Paradoxie/Paradoxität) und > Chaos spielt, keinen klaren Standpunkt ermöglicht. Es könne quasi als Sammelbecken für Außenseiter, Esoteriker jeder Couleur, magisch-abergläubische und reaktionäre Positionen und Sichtweisen, für psychisch labile Menschen, für alle solche, die vor der Realität flüchten und für narzisstisch Gestörte und für Inflationierte (> Mana-Persönlichkeit > Inflation) dienen.

Eine besondere Gefahr, der die > Analytische Psychologie möglicherweise Vorschub leistet, liegt in der Vorstellung, Ganzheit sei als Ziel des Individuationsprozesses (> Individuationsprozess > Ganzwerdung > Individuation) zwar nicht total, aber doch annähernd zu erreichen. Kritiker der Analytischen Psychologie weisen auf die Gefahr der Undifferenziertheit und daraus folgend der > Idealisierung und möglichen > Inflation durch die Ganzheitsvorstellungen der Analytischen Psychologie hin, ebenso darauf, dass Jung vermutlich ebenfalls Zeiten der Inflation erlebt hat. R. Lesmeister (1992) betont, dass das Ideal der Ganzheit, ebenso wie jede andere archetypische Vorstellung auch, einen > Schatten werfe. Der Schatten der Ganzheit sei die Destruktion. Das Ideal der Ganzheit verführe zur narzisstischen Vorstellung von Allmacht und Unverwundbarkeit, fördere eine psychische „Superstruktur“ und sei deshalb auch als solches nicht heilend, sondern destruktiv. Solange das Böse und Sinnlose als in der Ganzheit enthalten gesehen werde, könne es nicht wirklich in seiner ganzen dunklen und beunruhigenden Dimension als destruktiv anerkannt werden, denn es würde dann letztlich nur den zentrierenden und heilenden Kräfte der Psyche Wirklichkeit zugesprochen werden. Er plädiert deshalb dafür, den Begriff Ganzheit als Bezeichnung für eine ideale Strukturform der Persönlichkeit, wie er im Individuationsprozess fälschlicherweise gesehen werden könnte, aufzugeben. Ganzheit solle als eine archetypische Vorstellung behandelt werden, mit der man sich nicht identifizieren dürfe, sondern gegen die man sich abgrenzen solle, wie Jung es ja für die anderen archetypischen Vorstellungen auch fordert. Man könne natürlich trotzdem noch von ganzheitlicher Erfahrung, die aber zeitlich sehr begrenzt sei, sprechen.

Jung ist sich der Schwierigkeit und Problematik der Ganzheitsannahme – gerade auch wegen der Schattenproblematik und der damit verbundenen ethischen Komplikation (> Ethik > Ethik, neue > Schatten) durchaus bewusst. “Der richtige Weg zur Ganzheit aber besteht – leider – aus schicksalsmäßigen Um- und Irrwegen. Es ist eine „longissima via“, nicht eine gerade, sondern eine gegensatzverbindende Schlangenlinie, an den Wege weisenden Caduceus erinnernd, ein Pfad, dessen labyrinthische Verschlungenheit des Schreckens nicht entbehrt. Auf diesem Wege kommen jene Erfahrungen zustande, die man als „schwer zugänglich“ zu bezeichnen beliebt. Ihre Unzugänglichkeit beruht darauf, dass sie kostspielig sind: sie fordern das, was man am meisten fürchtet, nämlich die Ganzheit, die man zwar beständig im Munde führt, und mit der sich endlos theoretisieren lässt, die man aber in der Wirklichkeit des Lebens im größten Bogen umgeht.“ (Jung, GW 12, § 6).

Jung betont immer wieder, dass eine ganzheitliche Sichtweise auf das Leben kein Anlass für Selbsttäuschungen darstelle: „Wer also eine Antwort haben will auf das heute gestellte Problem des Bösen, der bedarf in erster Linie einer gründlichen Selbsterkenntnis, d. h. einer bestmöglichen Erkenntnis seiner Ganzheit. Er muss ohne Schonung wissen, wie viel des Guten er vermag und welcher Schandtaten er fähig ist, und er muss sich hüten, das eine für wirklich und das andere für Illusion zu halten. Es ist beides wahr als Möglichkeit, und er wird weder dem einen noch dem anderen ganz entgehen, wenn er – wie er es eigentlich von Hause aus müsste – ohne Selbstbelügung oder Selbsttäuschung leben will.“ (Jung, Jaffé, 1962, S. 333)

Aber er sieht auch bis zum Ende seines Lebens die sinn- und zielstiftende Funktion der Ganzheitsvorstellung: „Dem Bedürfnis der mythischen Aussage ist Genüge getan, wenn wir eine Anschauung haben, welche den Sinn menschlicher Existenz im Weltganzen hinlänglich erklärt, eine Anschauung, welche der seelischen Ganzheit, nämlich der Kooperation von Bewusstsein und unbewusstem, entspringt. Sinnlosigkeit verhindert die Fülle des Lebens und bedeutet darum Krankheit. Sinn macht vieles, vielleicht alles ertragbar.“ (Jung, Jaffé, 1962, S. 343)

Literatur: Jung, C. G., Jaffé, A. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung; Lesmeister, R. (1992): Der zerrissene Gott.

Autor: A. Müller