Gesellschaft
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Definition: Gesellschaft bezeichnet zuerst ein freundschaftliches Beisammensein, später wird es zur Bezeichnung der sozialen Ordnung, also des Zusammenlebens von Menschen unter bestimmten Bedingungen, Formen, Verhältnissen. Eine Gesellschaft kann eine mehr oder weniger erzwungene oder unfreiwillige Gemeinschaft sein und enthält unterschiedlich große Freiheitsgrade.
Information: Wenn C. G. Jung über soziologische, politische, sozial-psychologische, psychosoziale Vorgänge und die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und seiner sozialen Umwelt spricht, sind die Begriffe Gesellschaft, Gemeinschaft, Gruppe, Sozietät, > Kollektiv, Organisation, Masse, Kultur, Zivilisation oft nicht scharf voneinander getrennt. Jung bezeichnet die Gesellschaft manchmal auch als Sozietät und meint einen Zusammenschluss von Individuen zum Zwecke der Lebensorganisation, die durch bewusste Einstellungen, Haltungen, Regelungen, Absprachen gekennzeichnet ist, aber auch doch gemeinsame Traditionen etc. hat (> Bewusstsein, kollektives). Individuum und Gesellschaft sind in polarem Spannungsverhältnis (> Polarität): Das Individuum braucht die Sozietät als Basis, kann ohne sie nicht leben. Aber: Das Individuum existiert nicht für die Sozietät, und das Individuelle läuft Gefahr, durch das Kollektive erstickt zu werden. Nur > Differenzierung und die > Individuation des Individuums bringen auch die Sozietät weiter. Mit Masse, auch Vermassung, charakterisiert Jung manchmal die > Kollektivpsyche, vor allem das Phänomen, dass innerhalb einer, meist größeren, Gruppe Individuen in unterschiedlich starkem Grad regressiv (> Regression) werden, ihre Individualität, ihr kritisches Denken und ihre persönliche Verantwortung aufgeben und sich in einem kollektiven Gruppenbewusstsein von ähnlichen Gefühlen, Instinkten, Trieben, Vorstellungen zu ähnlichen Zielen treiben lassen (> Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien). Dabei spielt das von einer verbindenden gemeinsamen Idee, einem gemeinsamen faszinierenden Archetyps bzw. archetypischen Symbol Getragen-werden oft eine besondere Rolle: „Die alten Religionen mit ihren erhabenen und lächerlichen, mit ihren gütigen und grausamen Symbolen sind nämlich nicht aus der blauen Luft, sondern aus dieser menschlichen Seele entstanden, wie sie auch in diesem Moment in uns lebt. Alle jene Dinge, ihre Urformen, leben in uns und können jederzeit mit vernichtender Gewalt auf uns hereinbrechen, nämlich in Form der Massensuggestion, gegen die der Einzelne wehrlos ist. Unsere furchtbaren Götter haben nur den Namen gewechselt, sie reimen jetzt auf ‚ismus‘.“ (Jung, GW 7, § 326).
Unter einer Gruppe wird im allgemeinen Verständnis meist eine kleinere Anzahl von Individuen verstanden, die sich mit bestimmten Zielen oder aufgrund bestimmter Traditionen zusammenfinden. Die Bedeutung der Gruppe als stabilisierendem wie auch einschränkendem Faktor für den Einzelnen und seine Bewusstseins-Entwicklung – als Garant für die Ablösung aus den Elternarchetypen etwa – hat nach Jung vor allem E. Neumann ausgearbeitet.
Kultur, allgemein definiert, als geschichtlich begrenzt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich in Religion, Kunst, auch Politik und Wirtschaft sichtbar gemeinsam mit der Gesellschaft äußert. Die Äußerungsformen werden von den Angehörigen der Kultur verstanden, weil sie Verhaltens-, Denk- und Sichtweisen, Sprache und Grundhaltungen teilen. Jung und vor allem dann Neumann analysieren nach dem 2. Weltkrieg die Krise der patriarchalen Kultur und der Bewusstseinseinstellung der Industriegesellschaft (> Bewusstseins, patriarchales > Patriarchat) und halten eine Erneuerung durch eine schöpferische, ganzheitlich orientierte Einstellung der Gesellschaftsmitglieder für den einzigen Ausweg.
Mit Zivilisation bezeichnet Jung häufig seine eigene „moderne Zeit“ mit ihrer Technisierung des Lebens, die in Gegensatz zu den natürlichen Bedürfnissen des Individuums steht.
Der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) wird gelegentlich vorgeworfen, ihre Betonung der > Individualität und der > Individuation führe zu einer Art narzisstischer Eigenschau, bei der der Blick und das Engagement für die gesellschaftliche Realität verloren gehe. Dem lässt sich entgegnen, dass ein Prozess, der die Erfahrung der > Ganzheit des Lebens zum Ziele hat und diese Ganzheit definiert als die Summe aller möglichen Gegensätze, niemals ohne Bezug zur und ohne Relevanz für die Gesellschaft sein kann. Individuation ist in jeder Phase nur innerhalb eines Wechselspiels zwischen dem Individuum und seiner Um- und Mitwelt möglich (> Ethik > Ethik, neue). Nach Auffassung der Analytischen Psychologie beruhen gesellschaftliche Probleme häufig auf der Projektion des persönlichen oder gesellschaftlichen Schattens (> Schatten > Böses) auf Mitmenschen, auf Außenseiter, Minderheiten und andere Völker, wodurch diese zu Feinden und Sündenböcken werden. Solange der Schatten auf diese Weise am anderen und im außen gesehen und dort angegangen wird, kann sich gesellschaftlich nichts ändern. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Anima/Animus-Seiten der Persönlichkeit (> Anima/Animus: Klassische Auffassung), in der die gegengeschlechtlichen Kommunikations- und Beziehungsprobleme ebenfalls nicht nur die Probleme des Partners bleiben, sondern zu den eigenen werden. Im Individuationsprozess, der ein archetypischer und somit allgemeinmenschlicher Prozess ist, wird der Mensch mit den Grundfragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert. Er erfährt die Grundfragen des Menschlichen als seine eigenen und wird allgemeinmenschlicher und individueller zugleich, weniger anfällig gegenüber psychischen Epidemien, kritischer gegenüber kollektiven Zeitströmungen.
Literatur: Evers, T. (1987): Mythos und Emanzipation; Neumann, E. (1953 a): Kulturentwicklung und Religion; Neumann, E. (1961): Krise und Erneuerung.
Autor: A. Müller