Musik

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Keyword: Musik

Links: > Archetyp > Imagination > Kunst > Musiktherapie > Spiel > Symbol > Tanz > Traum

Definition: Musik (lat. musica von griech musiké téchne: musische Kunst) ist nach dem > Mythos ein Geschenk des Gottes Apoll an die Menschen. Musik ist eine Aufeinanderfolge von Klängen, die u. a. nach melodischen und rhythmischen Gesichtspunkten und Harmoniegesetzen organisiert werden. Darin kann das Ordnende und "Apollinische" der Musik spürbar werden. Musik erfasst den ganzen Menschen und wirkt unmittelbar auf > Körper und > Psyche ein. Sie weckt oder vertieft Emotionen (> [[Emotion]) und Fantasien (> Fantasie) und kann höchstes religiöses wie auch ekstatisch-dionysisches (> Bewusstseinszustände, veränderte > Ekstase) Entzücken, Chaos und Schrecken vermitteln. In Musik können, wie in jeder archetypischen symbolischen Gestaltung fascinosum und tremendum zusammen für ein > Individuum oder auch ein > Kollektiv zu einem numinosen Erleben werden (> Numinoses). Genau so kann Musik auch ihre symbolische, numinose Aufladung verlieren und zu einem Zeichen und damit zu Lärm oder Geräusch werden. Aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung kann sie rasch zu einer > Regression führen und besonders manipulativ wirken und auch eingesetzt werden.

Information: Alle bisher bekannten Kulturen und Gesellschaften kennen Musik sowohl als Spontan- und "Volks"-Musik wie auch als Kunst und jedes Individuum kennt eine spontane Tendenz, sich musikalisch auszudrücken wie auch Musik zu rezipieren. Die meisten Kulturen haben einen typischen musikalischen Stil entwickelt und oft steht Musik in enger Verbindung mit Tanz, Kult bzw. Religion, mit dem > Ritus, der Feier und dem > Spiel, dem Alltag und der Arbeit, mit besonderen individuellen und kollektiven Lebenssituationen, mit sozialen und politischen Entwicklungen und Veränderungen. Wie für alle Kunst (> Dichtung) gilt auch für die Musik, dass die aufgrund guter Begabungen, Kenntnisse und Fertigkeiten vom Komponisten bewusst gestaltete Musik unterschieden werden kann von der "großen" Musik, von der ein Komponist erfasst wird und die sich durch ihn hindurch schreibt. Als solche ist sie Ausdruck der transzendenten Funktion (> Funktion, transzendente) und kann auch kompensatorische Funktion haben, sowohl für das individuelle Bewusstsein, als auch für eine kollektive Bewusstseinshaltung oder Einstellung. Komponierte Musik hat zugleich einen starken rationalen, technischen Aspekt. Zu ihrer Findung, Entwicklung und Ausführung gehört neben Begabung und Zugang zum Unbewussten auch eine hohe Bereitschaft zu Präzision, Perfektion, Leistung und Technik. Sie stellt also nicht nur eine gelungene Verbindung von appolinischem und dionysischem Prinzip, sondern auch von matriarchalem und patriarchalem Bewusstsein dar (> Bewusstsein, patriarchales, > Bewusstsein, matriarchales).

Von C. G. Jung sind wenige Äußerungen zur Musik erhalten. Eine findet sich im Kontext der Aktiven Imagination (> Imagination, aktive), wo Jung überlegt, vielleicht könne die "Kunst der Fuge" Bachs eine aufgeschriebene Aktive Imagination sein, und sie könne Erkenntnis möglich machen, so wie Wagners Musik ja auch Archetypen darstelle. (vgl. Jung, GW 14/2, § 408). Eine andere ist indirekt überliefert. Bei einem Gespräch und einer Demonstration am Klavier 1956 sagt er der amerikanischen Musiktherapeutin (> Musiktherapie) Margeret Tilly, er habe viel Musik gehört, aber er höre sie jetzt nicht mehr. Sie erschöpfe ihn: "weil die Musik mit solch tiefem archetypischen Material zu tun hat, und weil diejenigen, die sie spielen, dies gar nicht realisieren“. Am Ende seines Gespräches mit Tilly ergänzt er: "Das, was Sie mir heute Nachmittag gezeigt haben - nicht nur das, was Sie gesagt haben, sondern vor allem das, was ich konkret gefühlt und erlebt habe - lässt mich fühlen, dass Musik von jetzt an ein wesentlicher Bestandteil einer jeden Analyse sein müsste. Sie gelangt zu tiefem archetypischen Material, zu dem wir in unserer Analytischen Arbeit mit Patienten nur selten gelangen." (Jung, 1986, S. 88f) Trotz dieser Wertschätzung ist Literatur zur Musik aus der Perspektive der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) noch selten. Ähnlich ist es übrigens auch in der psychoanalytischen Richtung, die musikalische Zeugnisse seit Reik (Reik, 1953) fast ausschließlich in Pathografien heranzieht. Der Physiker W. Pauli (> Physik), mit dem Jung intensiv zusammengearbeitet hat, hat sich viel mit Musik beschäftigt. Eine aufgeschriebene Aktive Imagination "Die Klavierstunde" hat er M. L. von Franz gewidmet (vgl. Rasche 1995). Für Pauli ist Musik ein wesentlicher Schlüssel zu den archetypischen Mustern der Natur, die Jung als psychoid (> Unbewusstes, Psychoides) bezeichnet: "Man kann die Welt nicht ohne das Klavierspielen verstehen" (vgl. Rasche, 1995). Grundlegend für das analytische Sprechen über Musik ist die Frage der > Hermeneutik. Das meiste, was über Musik gesagt wird hat mit der Musik und ihrer objektiven Faktur wenig zu tun, ist eher "Trivialhermeneutik" (Dahlhaus 1987). Musiker selber sprechen über die technische Seite, alles andere sagen sie "mit der Musik". Die Bedeutung der rationalen und technischen Seite unterscheidet komponierte Musik von aktiver Imagination, bei der das fertige Produkt kein Kunstwerk sein soll. Andererseits ist der Pianist C. Arrau der Meinung, "dass in meinem Ideal einer Musikschule Psychoanalyse zu den Pflichtfächern gehören würde" (vgl. Rathert, 1999, S. 29).

Musik ist eine Art Sprache ohne Worte und ein flüchtiges Erleben. Die Ansätze der Analytischen Psychologie gehen damit unterschiedlich um: 1. Sie orientieren sich teilweise an Musik, zu der es Worte gibt (Lieder, Operntexte) (Deininger, Remmler, 2000). 2. Sie sprechen die atmosphärische oder bildhaft-symbolische Seite von Musik an, z. B. von Musik in Träumen (> Traum). H. Streich hat in jahrzehntelanger Arbeit eine umfangreiche Sammlung von Musikträumen zusammengebracht und kommentiert (vgl. Streich, 1978, 1979, 1987). Solche Musikträume korrespondieren oft mit einer besonderen Einstellung oder Bewusstseinsänderung des Träumers. 3. Sie untersuchen die zahlenpsychologischen (Zahl) und symbolischen Aspekte (vgl. Streich, 1982). 4. Sie deuten musikalische Bewegungen als Ausdrucksbewegungen und szenisches Abbild, z. B. der Mutter-Kind-Interaktionen in Schumanns "Kinderszenen"(vgl. Rasche, 1995). 5. Sie verfolgen kulturgeschichtlich die psychologische und mythologische Bedeutung bestimmter Tonarten, Musizierweisen, Temperierungen (vgl. Streich, 1977 u. 1979). 6. Sie nutzen, um den Verlauf eines Musikstückes psychologisch beschreiben zu können, alchemistische Bilderserien als analoges Drittes, ähnlich wie Jung es im Vergleich von Traumserien und alchemistischen Serien gemacht hat. Eine unmittelbare Vorlage dazu bietet die Atalanta Fugiens (1618) von Michael Maier (vgl. Streich, 1973, Maier, Godwin, 1989) (das Werk ist eine bisher kaum gewürdigte Vorlage zu Bachs Kunst der Fuge). Literatur liegt auch vor beispielsweise zu Beethovens Eroika (vgl. Rasche, 1988) und zur Klaviersonate op. 110 (vgl. Rasche, 1991). Die analytische Beschreibung archetypischer Abläufe (> Archetyp) in absoluter Musik ist jedoch ebenso möglich. Die musikalischen Kompositionen stellen sich so dar als Dokumente des gestalteten Individuationsweges der Komponisten. (vgl. Rasche, 2002) Sie sind dann nicht Ausdruck von persönlicher Pathologie, sondern von Sinnfindung in einer bestimmten persönlichen, archetypischen und kulturgeschichtlichen Situation.

Literatur: Deininger, B.; Remmler, H. (2000): Liebe und Leidenschaft in Mozarts Opern; Rasche, J. (1991): Chaos und Liebe; Rasche, J. (2002): Archetypische Symbolik bei Johann Sebastian Bach; Streich (1987): Musikalische Träume.

Autor: J. Rasche