Mythos

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Keyword: Mythos

Links: > Apperzeption, mythische > Bewusstseinsentwicklung: Mythologische Stadien > Bewusstseins-Evolution > Einstellung, symbolische > Erkenntnistheorie > Mythodrama > Symbol > Weltsicht, archaische > Menschenbild > Wissenschaftstheorie

Definition: Der Mythos (griech. mythos: Erzählung; überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes, die sich besonders mit Göttern, Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung des Menschen befasst) ist eine Erzählung, die in der Regel ein allgemeines Phänomen widerspiegelt. Er ist erdichtete Realitätsbeschreibung. Der Antrieb zum Mythos liegt - wie in der heutigen Wissenschaft - auch im Wunsch und in der Notwendigkeit der Erklärung des Unerklärlichen. Mythologie und Mythen sind auch frühe Wissenschaft, Instrumente zur Wahrheitsfindung, Theoriebildungen über Phänomene, die sich aus den Quellen der Anschauung, der > Fantasie und der Intuition (> Intuition/Intuitive Funktion) speisen. Im Verständnis der frühen Griechen sind die Götter, die Mysterien und die göttlichen Abenteuer (> Heldenmythos) wahr und real, nicht symbolisch, und sie stiften einen > Sinn für die erlebten menschlichen Schicksale und Naturereignisse. Die Mythologie, als ein narrativ-intuitiver Zugang dazu, geht dem logisch-intuitiven Zugang der Philosophie voraus. Im Mythos liegt der Ursprung der griechischen Philosophie. Er wirft Grundfragen auf wie: Wie ist die Welt entstanden? (Schöpfungsmythen) Welche Kräfte wirken? (Theogonie, Hesiod)

Information: Wie stehen weibliches (Schöpfung, Naturkreislauf) und männliches Prinzip (> Männliches und Weibliches Prinzip) als > Gegensatz (> Polarität) zueinander, wie lassen sie sich verbinden? Was ist das Leben und was der Tod? Die auf Aufklärung, Rationalismus und materialistisches Weltbild (> Materie/Materialismus > Menschenbild) gegründete Wissenschaftsvorstellung hat das mythische Element scheinbar zurückgedrängt (> Bewusstseins-Mutation > Erkenntnistheorie > Wissenschaftstheorie) und das Reich der nachweisbaren Wahrheiten betreten. Wissenschaft aber ist auch von allem Anfang an die Suche nach dem Sinn der uns begegnenden Phänomene, selbst wenn es um enge, präzisierte Hypothesen geht, die scheinbar für die Frage nach dem Sinn keinen Raum lassen. Vom Ziel her gesehen geht es bei dieser Sinnsuche um Wahrheit. Wahrheit kann jedoch auch heute nur als orientierendes Prinzip wirksam sein und ist nicht etwa ein erreichbarer Zustand. Sie ist, wie Popper sagt, "ein Berggipfel, der gewöhnlich hinter den Wolken verborgen liegt" (vgl. Popper, 1972) Auch das Postulat einer absoluten Wahrheit, der Sicherheit des Eingebettetseins in eine zuverlässige Wirklichkeit, ist wieder ein Mythos. Das menschliche > Bewusstsein kennt die Wirklichkeit nicht, sondern nur Geschichten über diese (> Konstruktivismus > Wirklichkeit, psychische). Unsere Erkenntniswelt bleibt trotz aller Messinstrumente immer Fiktion, wie man am periodischen Paradigmenwechsel gerade in den exakten Naturwissenschaften erkennen kann. Wie die frühen Griechen ihre Mythen nicht als solche erkannt, in ihnen als ihrer Wahrheit gelebt haben, werden die modernen Mythen nicht erkannt und ohne Bewusstsein ihres symbolischen Charakters gelebt, z. B. der Mythos der absoluten objektiven Erkenntnis.

Nur wenn ihr "Als-ob-Charakter", ihre symbolische Bedeutung erkannt wird, so A. Campbell, erhält man durch Mythen Zugang zum Transzendenten und zu ihrem eigentlichen Sinn. Konkret genommen - so wie sie der im Mythos lebende Mensch versteht - haben die Mythen die Funktion der Einführung in das Kollektiv, also eine bloß soziale, keine transzendente Funktion (vgl. Campbell, 1991, S. 42f) Nach Campbell müsste also unterschieden werden zwischen Mythen, in denen unbewusst gelebt wird und Mythen, die symbolisch erkannt sind und Sinn schaffen. K. Wilber, der sich intensiv mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstsein auseinandersetzt, gibt dem Mythos den Sinn, Beziehung zu unseren entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln zu schaffen und damit Zugang zu > Energie. Außerdem geht er von mystischen oder transzendenten Archetypen (> Archetyp) aus, die nicht Erbe der Vergangenheit seien, sondern unbekannte zukünftige "Attraktoren.. Omega-Punkte, die noch nie kollektiv Gestalt angenommen haben, aber sich jedem einzelnen als Struktur-Potenziale anbieten". (vgl. Wilber, 1996, S. 306f)

Im Sinne des Archetypischen, also Menschheitstypischen versteht C. G. Jung den Mythos als ein dem Menschen eigenes inneres Lebensmuster, eine psychische Grundkonstellation (> Konstellation) des menschlichen Daseins. Er geht davon aus, dass es im Menschen eine Mythen schaffende Kraft gibt, die ihn auch heute noch - trotz der Herrschaft der Rationalität - mit der kollektiven Dimension verbindet. Jung betrachtet den Menschen, der ohne Mythen in reiner Rationalität zu leben glaubt, als einen Entwurzelten, "welcher weder mit der Vergangenheit, dem Ahnenleben (das immer in ihnen lebt), noch mit der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaft in wahrhafter Verbindung steht." (Jung, GW 5, S. 13) Weitergehend noch ist J. Hillman (1986) die Erinnerung (> Erinnern) eine Geschichte, die Menschen brauchen, um zu verstehen wer sie sind. Ebenso ist die > Neurose eine solche Geschichte, die erfunden wird, um ein Problem zu lösen. Auch die Heilung (> Heilen/Heilung > Mythodrama) wird so verstanden zur Fiktion, zur Geschichte, zur neu verstandenen und umgewandelten Erzählung. Therapie ist die "gemeinsame Arbeit an Fiktionen" (vgl. Hillman, 1986, S. 29) Giegerich vertieft diesen Ansatz in seiner Betrachtung der Neurose als "freie Schöpfung". (vgl. Giegerich, 1999) Auch in S. Freuds Denken hat der Mythos einen hohen Stellenwert. Als Quelle der Mythen vermutet er kollektive Wunschfantasien. Freud sucht nicht nur immer wieder nach adäquaten Bildern für menschliche Konfliktkonstellationen in den alten Mythen (> Narzissmus > Ödipuskomplex), sondern öffnet auch mit der Konzeption des Todestriebs (> Thanatos/Tod) eine Tür zur mythischen Welt.

Literatur: Blumenberg. H. (1979): Arbeit am Mythos; Campbell, J. (1989): Die Kraft der Mythen; Hillman, J. (1986): Die Heilung erfinden; Wilber, K. (1996): Eros, Kosmos, Logos.

Autor: D. Knoll