Symbiose
Keyword: Symbiose
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Definition: Symbiose (griech. sym: zusammen mit, übereinstimmend mit; griech. BIOS: Leben) ist ein aus der Biologie stammender Begriff, der dort das Zusammenleben von Lebewesen verschiedener Art zu gegenseitigem Nutzen bezeichnet. Die Biologie grenzt davon das Parasitäre (griech. parasitos: Neben- oder Mitesser, Schmarotzer) ab. In der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (> Objektbeziehungstheorie > Säuglingsforschung) spielt er in der psychogenetischen (> Psychogenese) und psychodynamischen (> Psychodynamik) Betrachtungsweise von Entwicklungen und in der Behandlungspraxis eine große Rolle.
Nach M. Mahler gehört die symbiotische Phase zu den anthropologischen Universalien der frühen Entwicklung des Seelenlebens (> Urbeziehung) und ist eine entwicklungspsychologische Schwellensituation von größter Bedeutung, denn eine adäquate Symbiose ist eine Vorbedingung für die nachfolgende erfolgreiche Ablösung und für eine gesunde psychische Entwicklung. Im Extremfall wird eine nicht störungsfrei durchlaufene symbiotische Phase der pathogenetische Ort von Psychosen. Für Mahler ist das wesentliche Merkmal der Symbiose "die halluzinatorisch-illusorische somatopsychisch omnipotente Fusion mit der Mutter und insbesondere die illusorische Vorstellung einer gemeinsamen Grenze der beiden in Wirklichkeit getrennten Individuen" (Mahler, 1975, S. 63).
Information: Als grundlegende symbiotische Phänomene gelten: der präkognitive Zustand des Säuglings mit daraus erforderlichen spezifischen Interaktionsmodalitäten. Außerdem ein Zustand der Ungetrenntheit auf der affektiven und der sensorisch-perzeptiven Ebene. Die Kenntnis dieser grundlegenden symbiotischen Phänomene schärft den, in der Therapie geforderten, diagnostischen Blick des Therapeuten für die regressive Wiederbelebung der symbiotischen Phase durch den Patienten.
In den neuen psychoanalytischen Theorien wird das Symbiosemodell Mahlers kritisiert. Im Lichte der, von der empirischen Säuglingsforschung nachgewiesenen, Wahrnehmungs - und Interaktionsfähigkeiten des Säuglings werde es unhaltbar (vgl. Dornes, 1993, S. 75). Bei genauerem Zusehen erweist sich aber ein allzu stürmischer Paradigmawechsel ebenfalls als revisionsbedürftig. Auch die "Gegenkritik" kann sich auf die Säuglingsforschung berufen. Diese weist nach, dass der Säugling anfangs nur innerhalb von 25% der Beobachtungszeit auf der Höhe seiner Wahrnehmungsfähigkeit ist, von der Stabilität eines kontinuierlichen Getrenntheitsempfindens kann daher kaum die Rede sein (vgl. Schulz-Klein, 1999). Außerhalb von zeitlich begrenzter "ruhiger oder aktiver Aufmerksamkeit" kann ein von symbiotischen Phänomenen bestimmter psychischer Innenhorizont nicht ausgeschlossen werden. Das Postulat der "Getrenntheit von Anfang an" (Dornes, 1993) muss ebenso aufgegeben werden wie die Annahme initialer Verschmolzenheit (Symbiose als einheitliche, universell gegebene Entwicklungsphase) und die Phasentheorie.
Die Alternative heißt: Eine vollständige Entwicklungspsychologie muss beides enthalten: Momente der Symbiose und Momente des Getrenntseins (> Filialisierung des Ich > Ich-Selbst-Achse). Beide gehören zum Kanon universeller, normaler entwicklungspsychologischer Phänomene. Die grundlegenden entwicklungspsychologischen Perspektiven der >Analytischen Psychologie sind mit den Ergebnissen der empirischen Säuglingsforschung durchaus vereinbar (Schulz-Klein, 1999, 2000). Dazu gehören u. a.: das Sein und Enthaltensein im > Uroboros; die > Einheitswirklichkeit als spezifische Wahrnehmungswelt und totale Bezogenheitssituation; die Ich-Keime, primäre Identität und das Verschmolzensein; die > participation mystique.
Im Bewusstsein, dass der psychische Anfangszustand als sekundär Erschlossenes mit den Kategorien der Erwachsenenpsyche letztlich nur umschrieben, niemals erschöpfend beschrieben werden kann, wählen C. G. Jung und E. Neumann von Anfang an dynamisch-dialektische, paradoxe (> Paradoxie) und symbolische Beschreibungskategorien und nicht die Eindeutigkeit einer Beschreibung nach dem Modell der Subjekt-Objektbeziehung mit den Gegensätzen von Separation (> Autonomie) oder Fusion (Symbiose). Die gegensatzenthaltende, ganzheitliche psychische Frühwelt ist für Neumann ein der Symbiose ähnlicher Zustand vor der distinkten Trennung der Gegensätze, der weder mit der Kategorie Getrenntheit noch mit der der Ununterschiedenheit beschreibbar ist. Ihn als "Miteinander- und -aufeinander-Bezogensein" (vgl. Neumann, 1963, S. 17) zu bezeichnen ist ein auch aus Sicht der Säuglingsforschung gelungener Annäherungsversuch an die psychische Realität des frühesten Säuglingsalters.
Literatur: Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling; Mahler, M. (1972): Symbiose und Individuation; Neumann, E. (1955 b): Die Erfahrung der Einheitswirklichkeit und die Sympathie aller Dinge; Schulz-Klein, H. (2000): Von den Wurzeln und zur Ursprungsgeschichte der Psyche.
Autor: H. Schulz-Klein