Inzestfantasie

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Keyword: Inzestfantasie

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Definition: Inzest als intrafamiliärer Missbrauch ist abzugrenzen von der Inzestfantasie, die symbolisch gesehen werden kann. C. G. Jung versteht die Inzestfantasie im Gegensatz zu Freud nicht konkret, als ein Streben nach sexueller Vereinigung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil, sondern als Symbol, das auf die "Vereinigung mit dem eigenen Wesen, die Individuation oder Selbstwerdung" weist und deshalb von vitaler, manchmal faszinierender Bedeutung ist. (vgl. Jung, GW 16, § 419).

Information: Inzesttendenzen werden von Jung symbolisch als > Regression zu den Elternimagines (> Eltern > Imago) gesehen, als Regression ins eigene Unbewusste auf der Suche nach > Ganzheit, Gegensatzvereinigung und Wiedergeburt, welche der Regeneration und der > Kreativität dienen. In der Sehnsucht nach dem Inzest zeige sich das ewige Verlangen des Menschen, wieder ein Ganzes zu werden, zurückzukehren zu seinem ursprünglichen Zustand des Einsseins, bevor ihm durch die Geburt des Bewusstseins die Trennung und Polarität aufgezwungen wird. (> Einheitswirklichkeit) Das Geheimnis, welches die Inzestfantasie umgibt, steht für Jung in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung dieser inneren Vorstellungen von Vereinigung und > Ganzheit. Zur Ganzheit gehören für den Menschen Bilder einer Beziehung zwischen den männlichen und weiblichen Gegensätzen (> Gegensatz > Männliches und Weibliches Prinzip > Polarität). Das archetypische Motiv hinter diesen Bildern manifestiert sich in Symbolen der Vereinigung der Gegensätze (> Coniunctio/Mysterium Coniunctionis) z. B. als königliche Hochzeit, > Hierosgamos, Vereinigung von Sonne und Mond, von Himmel und Erde.

Jung entwickelt aus seinen völkerkundlichen und mythologischen Studien die Auffassung, man müsse die Inzestfantasietendenz, die er als endogame Tendenz der > Libido bzw. den symbolischen Wunsch innerhalb der Familie und des vertrauten Umfeldes zu bleiben, bezeichnet (> Heiratsquaternio), als einen wirklichen Instinkt (> Verwandtschaftslibido) und nicht als Perversion ansehen. Diese endogame Tendenz der Libido kann sich als symbolischer Inzestfantasie in der Fantasie ausdrücken, das Inzestfantasietabu schützt aber vor dem tatsächlichen Inzest und zwingt die Libido, sich exogam zu verhalten, d. h. sich auf Neues, außerhalb der Familie liegende Objekte einzulassen. Inzest-Impuls und Inzest-Verbot gehören zusammen und müssen als vitale Energietendenzen nicht verdrängt werden, sondern können für die psychische Entwicklung bzw. die Entwicklung des Bewusstseins genutzt werden. Der Erfolg des Inzestabus besteht darin, die Konkretisierung des Inzestes zu verhindern, da dies zur Regression der Libido und zur Stagnation in der Selbstwerdung und Individuation führt. Im realen Inzest wird das Thema der seelischen Gegensatzvereinigung von Männlichem und Weiblichem missverstanden. Das, wonach die Seele im Tiefsten sucht, kann auf der physischen Ebene unmöglich gefunden werden kann, sondern es zerstört brutal, wenn es real gelebt wird. Der Trieb zur Ganzheit erscheint im agierten Inzest in seiner pervertierten Form. Das Inzesttabu setzt der Libido eine Schranke und ermöglicht eine neue Richtung der Libido, sodass der nicht realisierte inzestuöse Impuls zu einem kreativen, geistesbestimmten und spirituellen Leben hinführen kann. (Samuels 1989)

Literatur: Bovensiepen, G., Sidoli, M. (1999): Inzestfantasien und selbstdestruktives Handeln; Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins; Stein, R. (1981): Inzest und Liebe.

Autor: A. Kuptz-Klimpel