Psychifikation
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Definition: Psychifikation ist eine Bezeichnung, die C. G. Jung gewählt hat, um die Assimilation (> Anpassung) eines außerpsychischen Reizes an eine schon vorhandene psychische > Komplexität zu benennen. Durch diese Assimilation wird der Reiz zu einer psychischen Erfahrung. Jung geht nur einmal explizit auf diesen psychischen Vorgang ein (vgl. GW 8, § 234f). Insbesondere im Zusammenhang mit der psychoiden Seite des archetypischen Geschehens (> Unbewusstes, psychoides) ist die Psychifikation implizit immer beteiligt. Das Wirksamwerden des psychoiden Systems und der > [[Archetypen, wie Jung es sich vorstellt, setzt Psychifikationsprozesse voraus und wird durch sie erst voll verständlich.
Information: Hintergrund der Annahme dieser Prozesse ist die naturwissenschaftlich-empirische Grundlage der Analytischen Psychologie, die von einem psychobiologischen Gesamtorganismus ausgeht (> Biologie > Instinkte) als motivierende Kräfte des Verhaltens und des psychischen Lebens scheinen zwar in ihrer Zwangsläufigkeit biologisch-somatischer, physiologischer also außer psychischer Natur zu sein. Solange sie nur als biologisch-instinktive Determinanten eines Verhaltens oder Erlebens aufgefasst werden, wird Verhalten als Reiz-Reaktions-Schema interpretiert und ihre psychische Verarbeitung und Modifizierung werden ausgeblendet. Aus Instinkt und jeweiliger Gesamtlage eines Organismus mit der, in ihm auch vorhandenen, psychischen > Komplexität entsteht der modifizierte, an die psychische Gesamtkonstellation angepasste, der "psychifizierte Instinkt". Durch die Psychifikation kann eine ursprünglich scheinbar biologisch-triebhafte Energie oder > Motivation auch für psychische Prozesse genutzt werden, > Libido wird umgewandelt (> Funktion, transzendente). Bewusstsein kann als Synthese von Innen- und Außenwelterfahrungen entstehen. Auf dieser Ebene betrachtet sind für Jung und auch für E. Neumann Instinkte und Archetypen zwei Seiten des gleichen Phänomens. Eines ist ohne das andere nicht vorstellbar, beide erscheinen als diesselbe Sache, von zwei Seiten aus betrachten, beide bedingen sich gegenseitig und das Urbild oder der Archetyp ist die "Selbstabbildung des Instinktes". (vgl. Jung, GW 8, § 277).
Als psychifizierte instinktive und archetypische Energien werden von Jung nicht nur Hunger und Sexualität angenommen, deren biologische Verankerung und gleichzeitige Psychifikation offensichtlich zu sein scheint, sondern auch andere Motivationen menschlichen Verhaltens: etwa ein Aktivitätstrieb, der Lust am Wechsel und Spiel erzeugt oder ein Reflexionstrieb, der zum "Kulturtrieb" wird. (vgl. GW 8, § 239f) Der Zusammenhang zwischen Archetyp und Trieb bzw. Instinkt kann am deutlichsten an archetypischen Durchbrüchen in Psychosen oder an archetypischen Besessenheitszuständen massenpsychologischer Art (> Besessenheit > Kollektivpsyche) beobachtet werden. Die dabei zu beobachtenden "störenden Beimischungen der Urbilder" (vgl. Jung, GW 8, § 279]]) aus der archaischen Tiefenschicht führen zu einem Rückfall in das ungehemmte Handeln der Triebwelt. Gerade dies wird aber im Normalfall durch die Psychifikation verhindert. Die Psychifikation verwandelt die rein triebhafte Energie, sodass sie aus der biologischen Verwendung herausgelöst und für andere Zwecke genutzt werden kann. Durch die Psychifikation wird die automatische, reflektorische Abfolge von Reiz und Reaktion unterbrochen und "der Reizvorgang mehr oder weniger vollständig in psychische Inhalte verwandelt" (vgl. Jung, GW 8, § 243). An die Stelle der vorgegebenen, sofortigen biologisch motivierten, außerpsychischen, instinktiven Reaktion tritt durch die Psychifikation eine Unterbrechung, durch die Erleben, Reflexion, Variation, Transmutation möglich werden. Die unfreien Vorgänge können zugunsten von gewählten Modifikationen zurückgedrängt werden.
Psychifikation kann zusätzlich zu dem beschriebenen Vorgang der Entstehung oder der Umformung psychischen Geschehens auch das Ergebnis des Psychifikationsprozesses im Sinne von psychischen > Repräsentanzen bezeichnen. Für beide Sinnbereiche erweisen sich Psychifikationen als ein wichtiger Faktor aller schöpferischen Prozesse. In der therapeutischen Praxis kann Psychifikation in beiden Arten nutzbar gemacht werden, etwa in der Arbeit mit > Symbolen, die Psychifikationen sind. Zwar können und sollen sie das Bewusstsein ergreifen, aber sie sollen es nicht überwältigen oder inflationieren (> Inflation), sondern beschäftigen (Neumann, 1974, S. 352), Integration, Neuorientierung und Wandlung ermöglichen (> Bewusstsein, schöpferisches).
Über die allgemeinpsychologische und therapeutische Bedeutung hinaus hat die Psychifikation durch die empirische Säuglingsforschung einen aktuellen Akzent bekommen, der die Auffassung von der frühen Entwicklungspsychologie der Analytische Psychologie stützt. Wie Jung und Neumann geht die Säuglingsforschung davon aus, dass der Säugling zunächst in einer biopsychischen Existenzform lebt, die prinzipiell mit dem, von Jung beschriebenen, psychoiden System übereinstimmt. Der psychische Innenhorizont fungiert hier quasi als "Innenseite des Biologischen" (vgl. Dornes, 1994, S. 168), als "Schicht psychobiologisch fundierter Gefühlszustände" (vgl. Dornes, 1993, S. 191), als eine Art biopsychisches Überlebensprogramm "angeborener Auslösemechanismen" (vgl. Köhler, 1991, S. 2). Erst sekundär setzt eine Ablösung von der rein biologischen Steuerung ein. Der ursprünglich eher lockere Zusammenhang psychischer Vorgänge zentriert sich in der Psyche (> Zentroversion), einem lebenssteuernden, Außen- und Innenwelt "spiegelnden und gestaltenden psychischen System" (Neumann, 1949a, S. 314). Die Ablösung geschieht durch kontinuierliche Prozesse der Psychifikation, nicht durch ein endogenes sich selbst verwirklichendes Entwicklungsprogramm. Ihr Einsetzen und Gelingen hängen vom zwischenmenschlich-sozialen Beziehungsgeschehen des frühen Mutter-Kind-Dialogs ab (> Urbeziehung).
Literatur: Schulz-Klein, H. (2000): Psyche und Psychifikation.