Besessenheit
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Definition: Besessenheit ist eine Bezeichnung für einen psychischen Zustand, der als ein Eindringen von bösen Geistern und Dämonen in den Körper eines Menschen erlebt wird und ist ein, in fast allen Kulturen der Welt, beschriebenes Phänomen. Man unterscheidet die spontane, krankhafte Form der Besessenheit, die gegen den Willen des Betroffenen erfolgt, und die künstliche Form, die durch freiwillig angewandte psychische Techniken wie Trance erzeugt wird (z. B. bei den Pythien von Delphi, Schamanen oder Spiritisten, vgl. Ellenberger, 1985, S. 35ff). Im Exorzismus, dessen jahrhundertelange Tradition in der katholischen Kirche im Rituale Romanum von 1614 in, heute noch weitgehend, gültiger Form abgefasst wurde, versucht man die Geister zu beschwören und auszutreiben. Die drei Zeichen der Besessenheit sind das Sprechen oder Verstehen einer fremden Sprache, übernatürliche Kräfte und das Offenbaren von Verborgenem (Ernst, 1982). Der Exorzismus war – nach Ellenberger (1985) – im Mittelalter die wichtigste Heilmethode, aus der, über den Magnetismus und der Hypnose kommend, die moderne dynamische Psychotherapie hervorgegangen ist.
Information: Klinisch wird die Besessenheit heute als Untergruppe der dissoziativen Störungen im ICD 10 geführt. Aufgrund zunehmender transkultureller und ethnopsychologischer Forschung (Dittrich, Scharfetter, 1987; Quekelberghe, van, 1991) werden die, in vielen außereuropäischen Kulturen künstlich erzeugten, Besessenheitszustände nicht mehr als krankhaft angesehen. Bei entsprechender, religiöser Ritualisierung und soziokultureller Akzeptanz kann Besessenheit biologische wie psychosoziale Heilwirkungen erzielen (vgl. Goodman, 1997, S. 79f; Pressel, 1987 und Sjorslev, 1999). Besessenheit wird auch als Ausdruck einer spirituellen Krise interpretiert (Grof, 1999; Scharfetter, 1994).
Besessenheit wurde lange mit > Hysterie gleichgesetzt, die mit ihrer Erforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert entmystifiziert wurde. Für S. Freud war die Besessenheit die > Projektion verdrängter Triebregungen auf Dämonen. Auch C. G. Jung vergleicht die Komplexe (> Komplex) mit Dämonen. Jeder relativ autonome Komplex kann eine Obsession auf das Bewusstsein ausüben und dessen Freiheit beschränken. Jung (GW 15, § 73) sieht aber in Freuds „psychologischer Formel“ nur einen „Scheinersatz für jenes dämonisch Vitale, das eine Neurose verursacht. In Wirklichkeit besiegt nur der Geist die „Geister“, nicht der Intellekt“. Die Integration des ursprünglichen Geistes als Daimonion in die Menschen, mithilfe des aufgeklärten Verstandes, verleihe den Menschen eine gefährliche Macht und würde sie zunehmend der Gefahr der Besessenheit ausliefern. Jung (GW 10, § 400ff.) stellt so die destruktiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit der „Besessenheitsepidemie“ des > Nationalsozialismus in einen kulturkritischen Zusammenhang.
Literatur: Dittrich, A., Scharfetter, C. (1987): Ethnopsychotherapie; Fiore, E. (1999): Besessenheit und Heilung; Goodman, F. (1997): Ekstase, Besessenheit, Dämonen; Grof, S., Grof, C. (1990): Spirituelle Krisen; Ribi, A. (1989): Was tun mit unseren Komplexen?; Scharfetter, C. (1994): Der spirituelle Weg und seine Gefahren; Wahl, G., Schmitt, W. (Hrsg.) (2001): Besessenheit und Hysterie.
Autor: M. Krapp