Verwandtschaftslibido: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword:Verwandtschaftslibido

Links: > Beziehung > Beziehungsquaternio > Beziehung, therapeutische > Coniunctio > Inzest > Familie > Inzestmotiv, symbolisch > Übertragung/Gegenübertragung > Libido > Regression

Definition:Als Verwandtschaftslibido wird die Tendenz der > Libidio bezeichnet, sich in einem familiär-verwandtschaftlichen, vertrauten Umfeld mit vertrauten Menschenwürde zu bewegen. Sie äußert sich nicht nur als > Regression und inzestuöse Libido (> Inzest), sondern auch als Streben nach> Beziehung und > Bindung, nach > Liebe und Vereinigung (> Coniunctio). C. G. Jung hat die Verwandtschaftslibido als einen endogenen, a priori vorhandenen instinktiven, bzw. triebhaften und archetypischen Faktor betrachtet. Entgegen der oft vertretenen Meinung, Jung gehe es in der Therapie und > Individuation mehr um geistige Inhalte (> Geist > Logosprinzip) und um das Individuum, weniger um Beziehungsprozesse (> Beziehung > Gesellschaft > Kollektiv > Kollektivpsyche), zeigt sich, dass durch die Annahme der Verwandtschaftslibido Beziehungsaspekte im engeren und weiteren Sinne von Jung sicher nicht als Randerscheinung, sondern als konstituierendes Element des Menschseins und der Individuation verstanden werden (vgl. Schulz-Klein, 1997, S. 46). Ebenso wie Jung einen Trieb zur > Individuation (> Principium individuationis), zur Selbstverwirklichung (> Selbst) und zur > Ganzheit postuliert, nimmt er als Grundlage des menschlichen Beziehungsbedürfnisses einen Trieb zur Beziehung an.

Information: Die Verwandtschaftslibido als genuiner Drang nach menschlicher Nähe ist ein Existenzial des menschlichen Daseins, denn, so E. Neumann, "menschliche Existenz ist nur als zwischenmenschliche Existenz möglich" (Neumann, 1963 S. 94]]). Neumann beschreibt die Verwandtschaftslibido in ihrer entwicklungspsychologischen und allgemeinmenschlichen Bedeutung und sieht die > Urbeziehung als Modell von Beziehung, als eine bedeutsame und besondere Beziehung im archetypischen Feld von menschlicher Beziehung überhaupt: "Kein menschliches Wesen kann überhaupt als Einzelnes existieren und sich artgemäß entwickeln. Menschliche Existenz ist nur als zwischen-menschliche Existenz möglich. Die humanen Archetypen sind deswegen Ausdruck eines Miteinander und Ineinander menschlicher Lebewesen." (Neumann, 1963 S. 94]])

Die neurosenpsychologische Relevanz der endogenen Verwandtschaftslibido besteht in der Tatsache, dass Beziehungen gestört sein können und die Verwandtschaftslibido entgleisen kann (> Autonomie > Symbiose), z. B. in einer > Regression der Libido, etwa so wie sie von Jung in der inzestuösen Tendenz der Libido (> Inzestmotiv) beschrieben wird und von Neumann in den verschiedenen Inzestformen (> Inzest, uroborischer > Inzest, matriarchaler, Inzest des Helden) bzw. deren möglichen Störungen. Generell gestörte Beziehungen zur Mitwelt entsprechen meist denen zum Selbst und umgekehrt.

Beschäftigt man sich näher mit dem Verständnis der therapeutischen Beziehung in der Analytischen Psychologie, wird erneut die zentrale Bedeutung des Verwandtschaftslibido-Phänomens offenbar. In der therapeutischen Beziehung ist es die Verwandtschaftslibido, die die therapeutische Beziehung und die Beziehung von Mensch zu Mensch, von Unbewusst zu Unbewusst wie auch von Bewusstem zum Unbewussten ermöglicht. Die Verwandtschaftslibido ist also auch der Kern der Übertragung. Wie in der allgemeinen Lebenssituation kommt es in der Therapie zum Scheitern des Beziehungsgeschehens, wenn die unmittelbare Beziehung zum Mitmenschen durch Projektionen und Übertragungen verstellt wird, sodass Scheinbeziehungen entstehen, und Beziehung zur Fessel wird. Bei einer solchen Konstellation ist die Individuation gefährdet.

Durch die Verwandtschaftslibido ist auch das Inzesthema (> Inzest) in der therapeutischen Beziehung konstelliert. Das nahe Beieinandersein in der Therapie ist eine Versuchungssituation. Dabei ist nicht in erster Linie an das konkretistisch-sexuelle Missverständnis des Beziehungsstrebens und der Coniunctio-Thematik beim sexuellen Missbrauch in der Therapie zu denken (> Eros-Prinzip in der Therapie). Es gibt auch den diskreteren psychischen Inzest, die unbewusste, psychisch-symbiotische (> Symbiose) > Coniunctio) zwischen Patient und Therapeut, die u. a. zur Abhängigkeit oder zur > Inflation führen kann. Jung warnt und erinnert, "dass die coniunctio ein Hierosgamos der Götter und nicht die Liebesaffäre der Sterblichen ist." (Jung, GW 16, § 500]]). Die wichtigste aller, von der Verwandtschaftslibido gesuchten, Beziehungen - auch im therapeutischen Prozess - ist die zum Selbst. Die Coniunctio betrifft in erster Linie die innere Einigung der gegensätzlichsten Persönlichkeitsanteile, natürlich unter Einschluss der Konstellationen der jeweiligen Mit- und Umwelt.

Literatur: Neumann, E. (1963): Das Kind; Schulz-Klein, H. (1997): Eros, Hermes, die Hermeneutik und die tiefenhermeneutische Deutungsarbeit.

Autor:H. Schulz-Klein