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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Kollektiv
Links: > Bewusstsein, kollektives > Gesellschaft > Individualität > Individuation > Kollektivpsyche > Partizipation mystique > Persona > Unbewusstes, kollektives
Definition: Das Kollektiv (lat. colligere: sammeln; collectivus: angesammelt) bezeichnet eine Gruppe von Menschen mit einem gemeinsamen System von Werten und Normen, gleichen Interessen und Zielen, gleicher Weltanschauung, gemeinsamer übergeordneter Religion oder Ideologie mit dem besonderen Kennzeichen, dass individuelle Unterschiede (> Gesellschaft > Individualität > Kollektivpsyche) aufgehoben werden. Die Einzelpersönlichkeit wie auch individuelle Gruppen, z. B. die > Familie, verlieren ihre Bedeutung gegenüber dem übergeordneten Kollektiv und dessen Willen und > Macht. Das Zusammenleben im Kollektiv hat Merkmale der > Symbiose im positiven wie im negativen Sinn: An eine übergeordnete Persönlichkeit oder Gruppe wird Macht und Verantwortung delegiert, die Einzelpersönlichkeit erlebt dadurch Aufgehobensein, Verbindung, Verbundenheit und Entlastung von Verantwortung. Das Kollektiv als individuelle Unterschiede aufhebende, gleichmachende Gruppe oder Gemeinschaft und das > Individuum als das Ungeteilte, im Sinne von Vereinzelung und Einzelseiendem, können dann als Gegensatz verstanden werden, wenn Individualismus als absoluter Vorrang des Einzelinteresses vor dem Gemeinschaftsinteresse verstanden wird. Innerhalb eines Kollektivs bildet sich eine Art gemeinsamer, kollektiver Stimmung und Gestimmtheit, die unbewusst wirkend, zu gemeinsamen, auch bewusst werdenden Gefühlen und darauf beruhenden Handlungen führen kann. Ebenso kommt es zu gemeinsamen Abwehrvorgängen (> Abwehrmechanismen) der am Kollektiv teilnehmenden Individuen. Dieser Vorgang wird manchmal auch als ein Phänomen der Gruppen- oder Massen-Psychologie beschrieben. Der französische Soziologe E. Durkheim bezeichnet als Kollektivbewusstsein ein Bewusstsein, dass die Objektivität des sozialen Geschehens zum Ausdruck bringt und alle Glaubensvorstellungen, Denkweisen und Gefühle enthält, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft entwickelt worden sind wie z. B. Sprache und Schrift, Recht und Gesetze, Moralkodex.
Information: Vor allem im 19. Jahrhundert, nachdem die Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Freiheit des Menschen und den Individualismus proklamiert hat, und die Flexibilität und Mobilität der Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zunimmt, rückt, gegenüber den alten Kollektiven, ein neuer Begriff von Gruppe oder Gemeinschaft bzw. des Kollektivs und des Kollektivismus auch in sozialphilosophischen Theorien in den Blick. Das progressive, befreiende am neuen Kollektiv-Gedanken ist, dass traditionell gewachsene Gemeinschaften wie die Familie, die Kirche oder der Stand, die bis zur Aufklärung praktisch unangreifbar gewesen sind, nun nicht mehr dominieren. Stattdessen tritt eine neue Art von Gruppe ins Bewusstsein: die Gruppe von Menschen, die sich aufgrund gleicher Traditionen, Interessen und Anschauungen freiwillig zu neuen Bünden zusammenschließt. Vor diesem Hintergrund, vor allem auch der Philosophie der Romantik gelangt das Kollektiv, das Kollektiv-Bewusstsein und das kollektive Unbewusste (> Unbewusstes, kollektives) auch als Volk und Volksgruppe zu neuer Bedeutung: Jugendgruppen und Bünde entstehen, Märchensammlungen und Volkslied werden Ausdruck einer Heimat- Wurzel- und Identitätssuche (> Identität, personale). In dem Augenblick, in dem das Individuum sich aus den früheren, familiären, religiösen und sozialen Kollektiven heraus entwickelt und sich seiner Individualität und > Autonomie bewusst wird, entsteht zugleich neu die Sehnsucht nach Verbindung und Beziehung: regressiv (> Regression > Inzest, uroborischer) zurück zu den Wurzeln, der Natur, der Großen Mutter, auch als romantische Todessehnsucht, aber progressiv etwa in der frei gewählten Liebesbeziehung und in der Entwicklung neuer Kollektive, wie etwa politischer und sozialer Bünde und Parteien. Auch sozialpolitisch ist zu beobachten, wie ein Teil der gerade erst neu gewonnenen Eigen-Verantwortung des Individuums von diesem wieder an übergeordnete Organisationen abgegeben wird, die nun nicht mehr von einer Obrigkeit, sondern von den Beteiligten selbst kollektiv verwaltet werden. In Phasen bedrohlicher wirtschaftlicher und politischer Not, aber auch, wenn seelisch-geistige Not und Leere sich auftun und die Einzelnen in ihrem Selbstvertrauen stark erschüttert, kann eine Regression ins Kollektiv erfolgen. (> Nationalsozialismus)
In der Philosophie und Geschichtswissenschaft entwickeln sich im 19. Jahrhundert auch progressive kollektivistische Überzeugungen und Theorienbildungen: die Zeit des Individuums und der Einzelpersönlichkeiten, so glauben viele, sei vorüber, und die des Kollektivs als Gestalter der Zukunft würde beginnen. In diesem Verständnis ist nicht eine Regression in die > Fantasie gemeint, sondern eine neue Ebene der Verbindung der Individuen zu einem größeren Ganzen, einer neuen Einheit, die teilweise auch erkämpft werden sollte. Sowohl im Faschismus geht es um eine Volksgemeinschaft auf neuer Ebene, in der der Einzelne nichts, die Gruppe alles bedeuten sollte, als auch im totalitären Sozialismus. Die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts, die sich in diesem Klima entwickelt haben, sind zwar von "Führern" geführt, aber gleichzeitig ist das Volk in vielen unterschiedlichen Einzelkollektiven organisiert, die einen entsprechenden Kollektiv-Geist fördern und den Gedanken der Freiheit des Individuums auszumerzen versuchen Die Kollektiv-Erziehung macht es sich in solchen Systemen zur Aufgabe, jeden Einzelnen so zu erziehen, dass er später aus eigener Überzeugung der kollektiven Gestaltung der Gesellschaft und deren Ideologie nützen soll. C. G. Jungs Auseinandersetzung mit Gruppe und Gesellschaft, der "Masse" und der "Sozietät", die manchmal als übertriebener Individualismus und Abwertung der Bedeutung der Gemeinschaft kritisiert werden, muss vor dem Hintergrund dieser Idealisierung von Kollektiv-Systemen gesehen und als Gegenbewegung verstanden werden.
Literatur: Evers, T. (1987): Mythos und Emanzipation; Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins; Neumann, E. (1961): Krise und Erneuerung.
Autor: A. Müller