Bewusstseinsentwicklung: Weibliche Stadien: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Bewusstseinsentwicklung: Weibliche Stadien
Links: > Anima/Animus > Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien > Bewusstseinsentwicklung: Mythologische Stadien > Bewusstseinsentwicklung: Kindliche Stadien > Individuation > Männliches und Weibliches Prinzip > Selbst
Definition: E. Neumann hat auch den Versuch unternommen, die Unterschiede des weiblichen Entwicklungsweges von dem, des männlichen herauszuarbeiten. Der, in der Ursprungsgeschichte des Bewusstseins (Neumann, 1949a), dargestellte Prozess der Bewusstseinsentwicklung ist zwar für Männer und Frauen in mancherlei Hinsicht ähnlich, insofern das > Ich-Bewusstsein bei beiden Geschlechtern (> Geschlecht), aufgrund seines unterscheidenden, abgrenzenden, auf die Individualität hin zentrierenden Charakters, ein „männliches“ Vorzeichen und das Unbewusste, als Ort des Ursprungs und des Lebens, ein „weibliches“ Vorzeichen hat. Aber es gibt in diesem Differenzierungsprozess auch wesentliche Unterschiede, die durch eine grundsätzliche biopsychische Verschiedenartigkeit, die wiederum zu unterschiedlichen Identifizierungen und Entwicklungen führt, bedingt ist. (> Geschlechtsidentität)
Information: Das Ursprungsstadium der uroborischen Ursprungseinheit (> Uroboros) wird von Neumann beim weiblichen und männlichen Kind noch nicht unterschieden. Bei beiden werden die ersten Lebensmonate durch die > Urbeziehung, die Dual-Union mit der Mutter bestimmt. Sobald aber das Gegensatzprinzip (> Gegensatz > Polarität > Männliches und Weibliches Prinzip) dem weiblichen Kind zum Bewusstsein kommt, muss es nicht, wie das männliche Kind, die Urbeziehung zur Mutter aufgeben, sondern sie kann weitgehend bestehen bleiben. Persönlichkeitsentwicklung, Identitätsbildung und enge Bezogenheit auf die Mutter können für eine längere Zeit ohne Bruch übereinstimmen, da Mutter und Tochter das gleiche Geschlecht haben. In dieser Phase der „Selbstbewahrung“ bleibt das weibliche Ich mit der Mutter weitgehend verbunden, im > Mythos beispielsweise durch die Beziehung von Demeter und Kore symbolisiert. Sowohl psychologisch, als auch soziologisch bleiben die Frauen in dieser Phase noch in der Frauengruppe, das männliche Prinzip wird dabei als fremd und teilweise auch als bedrohlich empfunden. Das Männliche wird in der Gestalt des Kindes, Jünglings oder Bruders geliebt und als „Fruchtbarkeitswerkzeug“ verwendet, aber es bleibt dem Weiblichen ein- und untergeordnet und wird niemals in seiner männlichen Eigen- und Andersart anerkannt. (vgl. Neumann, 1952, S. 18)
Der nächste Entwicklungsschritt ist der „Einbruch des patriarchalen > Uroboros, in dem es sich um eine beginnende Entwicklung des Bewusstseins zum „Patriarchat“ (> Bewusstsein, patriarchales) hin handelt. Das männliche Prinzip (von außen als der Vater, der Bruder, der Mann, nach innen als Abgrenzungsbestrebung von der Mutter, und darüber auch Impulse zur Autonomie und Triebentfaltung erfahren) wird aktiv, ist aber auch, aufgrund der > Identifikation mit der Mutter, bedrohlich und ängstigend. Das weibliche Bewusstsein wird von etwas ihm zunächst Fremden und Numinosen (> Numinoses) erfasst. Mythologisch tauchen triebhaft überwältigende Figurengruppen wie die Satyre und Pan auf, es folgen dann männliche Gottheiten, z. B. Pan, Dionysos, Wotan, die noch von einer deutlichen Fremdheit und Anonymität umgeben sind. In der beginnenden und aufbrechenden Gegensatzspannung zum Männlichen, von und nach innen und außen, werden aber auch weibliche Dimensionen wach, die vorher unbewusst geblieben sind. Dieses Überwältigt werden von den hereinbrechenden unbewussten Trieben (> Instinkt > Motivation) und Gefühlen (> Emotion), kann aber auch große > Angst und Unsicherheit bereiten. Das Männliche kann in Träumen und Fantasien als Räuber, Entführer und Vergewaltiger erscheinen, demgegenüber sich das Weibliche als hilflos, schwach, unterlegen und zu „klein“ empfindet. Wenn sich das Weibliche aber dieser Überwältigung und der damit verbundenen Todesangst hingeben kann (Motiv der Todeshochzeit), kann die Erfahrung in Rausch und in den Orgasmus umschlagen.
Die Phase der Selbstaufgabe schließt sich nun an. Die Selbstbewahrung muss überwunden, die Ursprungsganzheit mit der Mutter aufgelöst, eine Beziehung zum inneren männlichen Prinzip und zum Männlichen außen aufgenommen werden. Aber es besteht hier die Gefahr, dass sich das Weibliche, in der Beziehung zum Männlichen, als unterlegen und abhängig empfindet (> Ödipuskomplex, > Vaterkomplex) und sich über seine Bereitschaft zur Identitätsbeziehung mit dem Männlichen und dem geistigen Prinzip identifiziert und die Beziehung zur eigenen Natur verliert.
In der nächsten Phase nimmt das Männliche persönlichere und individuellere Gestalt an, das Weibliche tritt ein in die Phase des „Patriarchats“, löst sich aus der inneren Beziehung zum überhöhten „Geist-Vater“ und tritt in Beziehung zum etwa gleichaltrigen Männlichen („patriarchale Ehe“). Da in der patriarchalen Beziehung (> Paar) aber eine eindeutige Rollenzuschreibung besteht und beide Partner ihre gegengeschlechtlichen Anima/Animus-Anteile in der > Projektion auf den anderen belassen, ist der weitere > Individuationsprozess erschwert und es kann eine „patriarchale Gefangenschaft“ eintreten, die für beide Partner, aufgrund vielfältiger Abspaltungs- Unterdrückungs- und Delegationsprozesse (> Abwehrmechanismen), nachteilige Folgen haben kann. “Wenn jedoch die Entwicklung einer großen Zahl von Menschen zur Individualisierung so weit fortgeschritten ist, dass sich die <<Zweideutigkeit>> der ursprünglichen menschlichen Natur nicht mehr, zugunsten eines archetypischen Kollektiv-Ideals, unterdrücken lässt, dann kommt es zur Krise der Patriarchatsehe und der Patriarchatskultur.“ (Neumann, 1952, S. 33)
In der Treue zu sich selbst und zur eigenen Individuation kann die einengende Patriarchats-Symbiose und -kollusion zur Phase der wirklichen Begegnung führen, in der sich Frau und Mann in ihrer Ganzheit „quaternal“ begegnen, in der das Weibliche und das Männliche als bewusste und unbewusste Strukturen aufeinander bezogen sind (> Beziehungsquaternio).
Die letzte Phase der weiblichen Entwicklung führt zur Selbstfindung. Alle psychischen Instanzen, die das Weibliche früher nach außen projizierte und am Außen erlebt hat, werden als, im Innen befindlich, erlebt und bewusst. Alle Phasen der Entwicklung tauchen erneut auf, aber sie stehen nun im Zentrum der > Integration der Gesamtpersönlichkeit. Das Zentrum ist nun nicht mehr das Ich, sondern das Selbst der geeinten Psyche.“Der Wandlungsprozess führt zur Begegnung mit dem inneren Männlich-Göttlichen auf erhöhter Stufe, der Geburt des göttlichen Kindes [..] Aber es kommt jetzt auch zur Wiederkehr der Urbeziehung in einer neuen und erhöhten Form, der Begegnung des weiblichen Ich mit dem weiblichen Selbst. Mit dem Wiederanschluss an die Große Mutter als Erdmutter, als Sophia und als weibliches Selbst schließt sich die Entwicklung und bildet mit dem Anfang eine Einheit.“ (Neumann, 1952, S. 56)
Literatur: Neumann, E. (1952): Zur Psychologie des Weiblichen.
Autor: H. Stark-Völz