Kompensation: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Kompensation

Links: > Abwehrmechanismen > Enantiodromie > Energie > Finalität > Funktion, transzendente > Gegensatz > Individualpsychologie > Kreativität > Libido > Polarität > Selbstpsychologie > Selbstregulation

Definition: Kompensation (lat. compensare: ausgleichen) bezeichnet allgemein den Ausgleich eines bestehenden Mangels durch den Einsatz dazu geeigneter Mittel. In der Psychologie werden unter Kompensation psychische Organisationsprozesse verstanden, die auf den Ausgleich bestehender psychischer Defizite und Einseitigkeiten gerichtet sind. Der Begriff Kompensation ist ebenso wie der der Überkompensation von A. Adler (> Individualpsychologie) in die Tiefenpsychologie eingeführt worden. Adler geht von einer "Organminderwertigkeit" und daraus folgender Kompensation und Kompensationsstörung als Basis der > Neurose aus, später spricht er allgemeiner vom > Minderwertigkeitsgefühl.

Information: Der Begriff findet heute in einer engeren und weiteren Bedeutung Verwendung. Im engeren Sinn bezeichnet er Abwehr- und Bewältigungsmechanismen (> Abwehrmechanismen), die insbesondere zur Regulation des Selbstwertgefühls (> Selbstwertgefühl und zur Aufrechterhaltung der Ichkohärenz eingesetzt werden (> Identität, personale > Narzissmus > Selbstpsychologie). Kast (1990) fasst folgende Kompensationsformen zusammen: 1. Kompensation durch > Größenfantasien 2. Kompensation durch idealisierte mächtige Elternbilder (> Eltern > Mutterarchetyp > Vaterarchetyp), wodurch rückwirkend auch die eigene Person aufgewertet wird 3. Kompensation durch Spiegelidentifikationen (> Übertragungsarten), bei der eine Beziehung gewünscht oder fantasiert wird, die die eigene Person aufwertet 4. Kompensation durch Aggression und Destruktion, um die eigene Enttäuschung und Ohnmacht abzuwehren 5. Kompensation durch Entwerten der kränkenden Personen.

In einem weiteren Sinn wird der Begriff vonC. G. Jung verwendet, mit dem er eine grundlegende, die psychischen Polaritäten ausbalancierende Dynamik beschreibt "Die Seele als ein selbstregulierendes System ist balanciert wie das Leben des Körpers. Für alle exzessiven Vorgänge treten sofort und zwangsläufig Kompensationen ein, ohne sie gäbe es weder einen normalen Stoffwechsel, noch eine normale Psyche. In diesem Sinne kann man die Kompensationslehre als eine Grundregel für das psychische Verhalten überhaupt erklären. Das Zuwenig hier erzeugt ein Zuviel dort. So ist auch das Verhältnis zwischen Bewusst und Unbewusst ein kompensatorisches." (Jung, GW 16, § 330) Da dem Bewusstsein immer eine sehr hohe, wache, klare, gerichtete und deshalb effektive psychische Tätigkeit zugrunde liegt, müssen im bewussten Zustand immer diverse Aspekte der psychosomatischen > Ganzheit ausgeblendet oder abgewehrt werden. Sie bilden den unbewussten Gegenpol zur bewussten Einstellung. Je ausschließlicher eine bewusste Haltung oder Einstellung betont wird und sich abgrenzt gegen andere, zur Ganzheit gehörende Aspekte, umso stärker werden die unbewussten Gegentendenzen energetisch aufgeladen. Eine starke Einseitigkeit der bewussten Haltung bringt eine starke psychische Spannung hervorund kann den Menschen auf Dauer davon abhalten, seine Lebensmöglichkeiten optimal zu verwirklichen. Zugleich wirkt aber die Selbststeuerung und die finale Tendenz des Psyche (> Finalität) und die Kompensation setzt ein: Je stärker der Mensch unter seinen Möglichkeiten bleibt, je stärker er sich überschätzt, je stärker seine Entzweiung mit sich selbst - seine Neurose - ist, je einseitiger die bewusste Haltung, um so stärker, lebendiger und gegensätzlicher treten Inhalte aus dem Unbewussten z. B. in Träumen auf. Können diese über das Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein) angenommen, verstanden (> Verstehen) und integriert (> Integration) werden, so erfährt die Persönlichkeit eine Erweiterung und kann sich auf neuem Niveau wieder stabilisieren. (> Synthese) Ist die bewusste Haltung dem Unbewussten gegenüber eine sehr starre oder feindliche, kann das dazu führen, dass die unbewussten Inhalte so stark verdrängt werden, dass sie ihren Charakter ändern und zu archaischen Inhalten werden (> Regression). Haben sie diesen archaischen Zustand erreicht, können sie nicht mehr kompensatorisch wirken, da sie sich zu weit von den bewussten Normen und Vorstellungen entfernt haben.

Die Kompensation wirkt als ein unbewusster psychischer Vorgang und wird vor allem in Träumen, Symbolen, Fantasien und Imaginationen (> Traum, > Symbol, > Fantasie > Imagination) vom Ich-Bewusstsein erfahrbar. Jung grenzt die kompensatorische Funktion unbewusster Bilder, Träume, Symbole ab von der "illusionären > Wunscherfüllung" und von der Komplementarität (lat. complementare: anfüllen, auffüllen, vervollständigen), die eine Vervollständigung und zwangsläufige Ergänzung meint. Die Kompensation dagegen sei eine "Gegeneinanderhaltung und Vergleichung verschiedener Daten oder Standpunkte, wodurch ein Ausgleich oder eine Berichtigung entsteht." (vgl. Jung, GW 8, § 545). Je einseitiger eine bewusste Einstellung ist, umso mehr stelle sich das Unbewusste auf die Gegenseite, je angemessener, desto eher produziere das Unbewusste Varianten zum Bewusstsein bis hin zur Koinzidenz (d. h. Zusammenfallen einander deckender Inhalte) von bewusster Einstellung und Äußerungen des Unbewussten, wie etwa im Traum. Auch die prospektive Funktion (> Finalität) eines Traumes oder Symbols unterscheidet Jung von der Kompensation, da es sich dabei eher um "eine im Unbewussten auftretende Antizipation zukünftiger bewusster Leistungen, etwa wie eine Vorübung oder wie eine Vorausskizzierung, ein im Voraus entworfener Plan" handele, die allerdings dem Bewusstsein und seinen Plänen und Entwürfen häufig überlegen sei. (vgl. Jung, GW 8, § 493)

Die Kompensation ist nicht nur ein individueller Vorgang, sondern sie wirkt genau so in der kollektiven Psyche (> Gesellschaft > Kollektiv > Kollektivpsyche). Überall, wo eine Ideologie sich durchgesetzt hat, eine Einseitigkeit herrscht, ein Überfluss oder Mangel, sei es in der Wirtschaft und Politik, in kulturellen, wissenschaftlichen, religiösen und philosophischen Tendenzen und Systemen, sammeln sich die ausgeblendeten Gegentendenzen, zunächst in Außenseiter-, Rand- und Unterweltphänomenen. Allmählich oder auch ganz plötzlich und scheinbar unerklärlich brechen diese dann, an unterschiedlichen Stellen, in die scheinbar geordnete Kollektivwelt ein, und es entwickelt sich eine Gegenkultur. Die Kompensation ist also, aufgrund des fortwährend neuen Zusammentreffens von Bewusstem und Unbewusstem, ein sehr kreativer Regulationsmechanismus auf individueller wie kollektiver Ebene.

Literatur:

Autor: A. Müller