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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Selbstpsychologie
Links: Ich-Psychologie > Objektbeziehungstheorie > Säuglingsbeobachtung > Säuglingsforschung > Selbst > Selbstregulation
Definition: Selbstpsychologie ist eine durch die Modifikationen H. Kohuts angeregte Richtung innerhalb der > Psychoanalyse (> Selbstobjekt). Ausgehend von den Schwierigkeiten in der Analyse narzisstisch gestörter Menschen (> Narzissmus) sieht sich Kohut zunehmend zu Modifikationen der Anschauungen und Vorgehensweisen der klassischen psychoanalytischen Ich-Psychologie veranlasst. Da er in der Problematik dieser Störungen nicht so sehr verdrängte Triebkonflikte, sondern mangelhafte Reifung des Selbst erkennt, rückt die Frage nach den Bedingungen der Reifung des Selbst und deren Störungen in das Zentrum seines Interesses. In seinem 1979 erschienen Buch „Heilung des Selbst“ erweitert Kohut den in der Psychoanalyse bis dahin üblichen Begriff des Selbst als > Selbstrepräsentanz (vgl. Hartmann, 1972) zur Definition des Selbst als Zentrum des seelischen Universums. Dies hat bedeutende Konsequenzen: Die bisher als primär erachteten Triebe mit ihren Entwicklungsschicksalen werden einem sich formenden Selbst unterstellt, sie dienen zu dessen Aufbau. Das Selbst bildet eine selbstständige Konfiguration und geht qualitativ über die Summe seiner Triebe weit hinaus. Triebfixationen auch ödipaler Art mit den entsprechenden Abwehrmechanismen bedeuten nach Kohut Zerfallsprodukte aus einer Desintegration des Selbst. Das Primäre ist also die Störung in der Kohärenz des Selbst, der Triebkonflikt sekundär - eine radikale Neuerung in der Psychoanalyse.
Information: Bekanntlich definiert C. G. Jung das > Selbst als den Umfang und das Zentrum der Gesamtpersönlichkeit, die sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste umfasst. So ergibt sich eine erstaunliche Übereinstimmung der Definitionen, aber auch Unterschiede. Jungs Idee von der Ganzheit der Persönlichkeit und Kohuts Auffassung des psychologischen Universums sind nicht deckungsgleich. Jung hat seine Einsichten aus eigener Erfahrung der Bilderfülle gewonnen, die ihm in fast überwältigender Weise in Träumen und Imaginationen aus dem Unbewussten zuströmte. Er entdeckt, dass in diesen scheinbar bunten und regellosen Inhalten des Unbewussten ein bis dahin verborgenes Anordnungszentrum wirksam sein muss, das nach deren Integration strebt und sowohl das seelische Gleichgewicht aufrechterhalten will als die auch notwendige Bewusstseinsentwicklung zu steuern trachtet (> Individuationsprozess > Selbstregulation). Dieses verborgene Anordnungszentrum wird von Jung als > Selbst bezeichnet, als eine zwar unanschauliche, aber doch alles bestimmende Größe der Psyche. Kohut erreicht seine Erkenntnisse mittels > Empathie in das Erleben seiner Analysanden anhand von Übertragung und Gegenübertragung. Seine Schriften zeichnen sich durch hoch differenzierte Subtilität des Fühlens und Erspürens von Erlebnisnuancen aus. So kommt er zu Einsichten, die wohl auch von der Analytischen Psychologie geteilt werden könnten. "Wir können unsere Überzeugung nicht aufgeben, dass es das Selbst und das Überleben seines Kernprogramms ist, welches die grundlegende Triebkraft in jeder Persönlichkeit ausmacht, und dass jeder Analytiker sich letztlich diesen tiefsten und fundamentalsten Motivationen gegenübersieht, die in seinem Patienten wirksam sind." (Kohut, 1984)
Was die analytische Praxis betrifft, so bestehen die Gemeinsamkeiten von Analytischer Psychologie und Selbstpsychologie darin, dass therapeutische Wirksamkeit nicht vornehmlich von der Aufdeckung frühkindlicher Konflikte erwartet wird. Wichtiger ist die einfühlende Begleitung des in der Analyse einsetzenden Reifungsprozesses im Hier und Jetzt. Jung richtet sein Vorgehen danach aus, was die unbewusste Selbst-Dynamik z. B. anhand von Träumen, Fantasien und Imaginationen "mitteilt". Kohut hingegen versucht mittels Empathie wahrzunehmen, auf welche Weise in der Übertragungssituation das Selbst des Patienten den Analytiker als Selbstobjekt benötigt, zwecks Aufrechterhaltung seiner Kohärenz und Förderung seiner Reifung. Das sind verschiedene Blickwinkel, die sich aber fruchtbar ergänzen lassen. Jedenfalls können Kohuts subtile Beiträge auch die psychotherapeutische Palette innerhalb derAnalytischen Psychologie entscheidend bereichern und differenzieren. Seit Kohut hat sich die Selbstpsychologie weiterentwickelt in verschiedene Interessens- und Forschungsrichtungen, wie Intersubjektivität (vgl. Stolorow u. a., 1987), Motivationssysteme (vgl. Lichtenberg u. a., 2000), Bindungstheorie (vgl. Shane u. Shane, 1997). Vor allem besteht ein enger Bezug zu der modernen Säuglingsforschung (vgl. Stern, 1992, Lichtenberg 1991).
Literatur: Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Kohut, H. (1979): Heilung des Selbst; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse.
Autor: M. Jacoby