Ich-Psychologie
Keyword: Ich-Psychologie
Links: > Bewusstsein > Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien > Ich/Ich-Bewusstsein > Ich, integrales > Ich-Komplex > Ich-Selbst-Achse > Selbst
Definition: Die psychoanalytische Ich-Psychologie geht - auf dem Strukturmodell der menschlichen Persönlichkeit von S. Freud aufbauend - davon aus, dass in einer psychisch gesunden > Persönlichkeit das Ich (> Ich/Ich-Bewusstsein) über das > Es und das Über-Ich (> Überich) dominiert. Das bedeutet, dass ein Ich über > Realitätsprüfung und Fähigkeit zur > Anpassung verfügen muss, über reife > Abwehrmechanismen (> Abwehr) und reife Beziehungen, außerdem über einen reifen Umgang mit dem Triebbereich (> Instinkt > Libido). Mit den Abwehrmechanismen beschäftigt sich besonders Freuds Tochter Anna Freud.
Information: Einen entscheidenden Einfluss auf die Ich-Psychologie haben die Gedanken H. Hartmanns, der von angeborenen Ich-Apparaten, das sind Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis u. a. (> Ich-Funktionen) ausgeht, die sich normalerweise konfliktfrei, d. h. nicht von Triebkonflikten gestört, entwickeln, jedoch natürlich sekundär gestört werden können. Damit geht er über die psychosexuelle > Entwicklungspsychologie (> Triebentwicklung, Phasen der) und die klassische Neurosenlehre (> Neurose > Ödipuskomplex) hinaus. Er rückt die Entwicklung des Ichs aus der frühen Mutter-Kind-Situation (> Mutterarchetyp > Säuglingsforschung, Entwicklung der > Urbeziehung) heraus in den Mittelpunkt seines Interesses, damit vor allem auch die frühe Mutter-Kind-Beziehung als Dyade (> Psychologie, pränatale > Symbiose). Die frühe Mutter-Kind-Beziehung wird als symbiotisch, teilweise auch als autistisch aufgefasst und die Prozesse der Entwicklung aus dieser Symbiose heraus zur > Autonomie des Ichs als der eigentlichen "Geburt des Individuums" werden intensiv beobachtet und beschrieben, u. a. von R. Spitz, M. Mahler, J. Bowlby, in der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) von M. Fordham und E. Neumann. Durch diese Untersuchungen angeregt finden dann innerhalb der triebtheoretischen Auffassungen die prä-ödipalen Prozesse (> Objektkonstanz > Triade/Triangulierung) eine höhere Aufmerksamkeit.
Hier nehmen die Objektbeziehungstheorien (> Objektbeziehungstheorie > Objekt) ihren Ausgang. Sie betonen allerdings mehr die Bedeutung der > Beziehung und der Bezugspersonen und kritisieren, dass in der Ich-Psychologie die Fähigkeit der Autonomie zu hoch eingeschätzt werde.
Die Entwicklungspsychologie von Neumann (> Bewusstseinsentwicklung: Kindliche Stadien > Bewusstseinsentwicklung: Mythologische Stadien) setzt sich mit den triebtheoretischen Auffassungen, mit den Konzepten von M. Klein (> Kleinianische Psychotherapie), auch mit der von Freud erstmals aufgeworfenen Frage der narzisstischen Libido (> Anthropozentrismus > Narzissmus) und mit dem ichpsychologischen Ansatz, den Deprivationsforschungen und der Bindungstheorie von Bowlby (> Bindung) auseinander. Neumanns Ansatz geht dabei einen anderen Weg: Er beschreibt die Entwicklung des kindlichen Ich aus der Urbeziehung und aus dem > Selbst heraus. Das Ich-Bewusstsein soll dabei eine gewissen Autonomie entwickeln (> Automorphismus > Zentroversion), bleibt aber mit dem Selbst verbunden. (> Filialisierung des Ich > Ich, integrales > Ich-Selbst-Achse)
Eine relative Autonomie des Ich-Bewusstseins im Sinne der Ich-Psychologie ist in Neumanns Ansatz gegeben in der Entwicklung des patriarchalen Ich-Bewusstseins (> Bewusstsein, patriarchales > Inzest des Helden). Dieses Ich-Bewusstsein steht aber in Gefahr, in der Beziehung zum Selbst nicht genügend verankert zu sein, zu einseitig zu werden, damit starr und unflexibel. Deshalb hört die Entwicklung der Persönlichkeit für Neumann nicht mit dem Erreichen des patriarchalen Ichs und der Ich-Autonomie auf, sondern führt in die Wandlungsphase (> Wandlung) und damit in eine neue Beziehung zum Selbst und der Ganzheit (> Bewusstsein, schöpferisches). Neumann versteht zudem die Beziehung zwischen Ich und Selbst und die Entwicklung der Persönlichkeit als einen Prozess der lebenslangen > Individuation (> Individuationsprozess), in dessen Verlauf die Ich-Selbst-Achse flexibel bleibt. Das Ich-Bewusstsein durchläuft immer wieder Phasen der höheren Autonomie und > Progression, Phasen der Einseitigkeit, der Erstarrung und Phasen der > Regression (> Heldenmythos > Bewusstsein, matriarchales).
Literatur: Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse; Neumann, E. (1963): Das Kind; Tyson, P., Tyson R. (1997): Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie.
Autor: A. Müller