Zwangsneurose

Aus aip-lexikon.com
Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr von Lutz (Diskussion | Beiträge) (1 Version importiert)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springenZur Suche springen

Keyword:Zwangsneurose

Links: >Neurose > Ritual > Ritualisieren > Wiederholen > Wiederholung, Wiederholungszwang > Wille > Zwang

Definition:Die Zwangsneurose ist eine psychische Störung, die bisher noch unzureichend psychodynamisch verstanden werden kann. Es ist wahrscheinlich, dass dabei auch biochemische psychoneuronale Störungen im Gehirn eine größere Rolle spielen. In der klassischen > Psychoanalyse wird der > Zwang als neurotisches Symptom, als Ausdruck eines intrapsychischen Konfliktes zwischen aggressiven und sexuellen Trieben und einem strengen Über-Ich verstanden. Libidinöse ödipale Fantasien müssen abgewehrt werden. Die Disposition zur Zwangsneurose entsteht allerdings auch schon in der vorherigen Entwicklungsphase durch Fixierung an anale Triebregungen, die archaisch geblieben sind. Sie bleiben im]] > [[Unbewussten, anstatt vom Ich für seine Entwicklung genutzt zu werden. Bei dieser Vorschädigung und Schwächung des Ichs regrediert (> Regression) das Ich angesichts der ödipalen Libidotendenzen auf die anale Stufe.

Information:In den neueren psychoanalytischen Theorien (> Entwicklungspsychologie > Selbstpsychologie > Objektbeziehungstheorie) wird die Entstehung des Zwangs ausgehend von der grundlegenden Bedeutung der Autonomie-Konflikte (> Autonomie) für die Entwicklung des Ichs und der Persönlichkeit erfasst. Es wird angenommen, dass die an sich gesunden Autonomietendenzen des Kindes auf eine Umwelt treffen, die diese auf unterschiedlichsten Gründen zu sehr behindert und einengt und damit die Entfaltung des eigenen Willens stört. Diese Behinderung würde im Verständnis der > Analytischen Psychologie beispielsweise daraus resultieren, dass das Kollektiv starr und einseitig auf Normen und Werten eines rigiden patriarchalen Bewusstseins basiert. Aus gesunder Autonomie können so destruktive und antisoziale Impulse und Handlungen entstehen, die wiederum durch Liebesentzug und Strafe bekämpft werden. Dem Ich werden dadurch die gesunden Möglichkeiten genommen, die typischen Ambivalenzkonflikte der entsprechenden Entwicklungsphase: Liebe, Nähe, Bindung, Symbiose, Passivität, Regression vs.Aggression, Wut, Hass, Trennung (> Weltelterntrennung), Autonomie, Aktivität, Progression durch Ausprobieren verschiedener aktiv-progressiver und passiv-regressiver Verhaltensalternativen zu üben und zu trainieren. Das Ich wird nicht zu eigenständigem Handeln fähig. Gleichzeitig müssen die entstandenen, heftigen Aggressionen und antisozialen Verhaltensweisen abgewehrt werden.

So kann zunächst durch die entsprechenden Abwehrmechanismen eine zwangsneurotische Charakterstruktur entstehen. Der Mensch zeichnet sich dann etwa durch Überfreundlichkeit bis zu Unterwerfung aus, durch starken Gerechtigkeitssinn bis zur Rigidität, durch Enge und Unflexibilität bis zur Starre etc. Diese Persönlichkeitszüge werden als ich-synton erlebt. In spezifischen Situationen, die den zugrunde liegenden Autonomie-Konflikt wachrufen, können zusätzliche Abwehrmaßnahmen nötig werden, die dann, bei entsprechender Stärke des Konfliktes und der benötigten Abwehr zum Kompromiss im Symptom des Zwangs - Zwangsimpuls, Zwangsvorstellung, Zwangsdenken oder Zwangshandeln - führen. Zwangssymptome können auch die Gefahr von psychotischen Störungen in Schach halten.

Diskussion: Logos-Prinzip) angesiedelt - also etwa der Zeit, die von der Psychoanalyse als anale Phase bezeichnet wird, oder als Phase der Autonomiekonflikte. Das Denken ist noch magisch. Die mit der Entfaltung und Beherrschung der Motorik und Aggressivität beginnende Aufrichtung und Abkehr vom unteren Körperpol wird aufgrund der magischen Bewusstseinswelt zu einem destruktiven Abwenden, Wegstoßen, Beseitigen des unteren und körperlichen Dunklen und Bösen durch Aktivität, Abwendung, Kontrolle, Aggression, Leistung. In den Abwehrmechanismen, die im Zwang wirken, sind die magische Bewusstseinshaltung und deren Konflikt-Bewältigungsmechanismen häufig noch deutlich erkennbar.

Das Ritualisieren oder ritualisierte Wiederholen ist in der Bewusstseinsentwicklung im Sinne eines Konzentrierens, Übens und Sammelns wie auch im Sinne einer Verstärkung des eigenen noch schwachen Willens eine Möglichkeit, Verhaltensweisen zu fördern, die dem Einzelnen Macht über den Bereich des Körperlichen, des Unteren, der Natur und des Unbewussten geben. In der Zwangsneurose erstarrt das Ritual. Es wird eingesetzt, um sich eigenen schöpferisch-kreativen Handlungs- und Autonomie-Impulsen des Unbewussten und der von dort ausgehenden Wandlungsimpulse zu widersetzen. Nicht nur die Zwangsneurose, auch die Sündenbockpsychologie nimmt hier ihren Anfang. Die in dieser Entwicklungsphase einsetzende Über-Ich-Entwicklung kann durch diese Entwicklung gestört werden, indem das Über-Ich sich destruktiv auflädt und dann als Zwang wirksam wird. (vgl. Neumann, 1963).

Neumann spricht in diesem Zusammenhang von der patriarchalen Krise und der patriarchalen oder analen Kastration. Das "Helden"-Ich wird ein schwaches und ein erstarrtes und unschöpferisches Ich, das den Inzest des Helden, die Wiederverbindung mit dem bedrohlichen matriarchalen Bewusstsein und die daraus resultierende Wandlung nicht zulassen kann. Es muss zwanghaft all seine entsprechenden Sehnsüchte abwehren und sich von seinen Wurzeln abspalten.

Die starke Dissoziation zwischen Ich und Unbewusstem führt dazu, dass es dem Ich gelingt, lebendige und dynamische Symbole des Unbewussten zu bloßen Zeichen werden zu lassen, sodass sie ihre transzendierende Funktion einbüßen. Den Zwang wieder als Symbol aufzufassen und Zugang zu seinem Sinn und seiner Dynamik zu finden, könnte die Erstarrung des Ich dann wieder lockern.

Literatur:Benkert, O., Lenzen-Schulte, M. (1997): Zwangskrankheiten; Neumann, E. (1953 a): Kulturentwicklung und Religion; Quint, H. (1988): Die Zwangsneurose aus psychoanalytischer Sicht; Schwartz, J., M., Beyette, B. (1999): Zwangshandlungen und wie man sich davon befreit.

Autor: A. Müller