Säuglingsforschung: Entwicklung
Säuglingsforschung: Entwicklung
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Definition: Säuglingsforschung (Infant Research, Neo-Natal Research]]) ist von der > Säuglingsbeobachtung (Infant Observation, Babywatching) zu unterscheiden. Sie arbeitet nach wissenschaftstheoretischen Kriterien und Methoden.
Information: M. Dornes fasst die Ergebnisse der Säuglingsforschung für den deutschen Sprachraum zusammen und fordert einen gravierenden Perspektivewechsel für die entwicklungspsychologischen Konzepte der > Psychoanalyse, einschließlich der Konsequenzen für die Praxis der Psychotherapie. (vgl. Dornes, 1993) Entwicklungspsychologische Fakten sind in der Praxis der Psychotherapie von großer Bedeutung für das Verstehen und den Umgang mit seelischen Störungen und deren Entwicklung (> Neurose > Psychodynamik > Psychogenese), mit Regressionen und Übertragungen. Unrealistische entwicklungspsychologische Konstrukte verzerren den Verstehenshorizont und gefährden eine positive Entwicklung des therapeutischen Prozesses. Die frühere psychoanalytische Entwicklungspsychologie ist zwar von empirischen Daten ausgegangen, aber die Methodologie der Beobachtung und deren Interpretation entsprechen nicht den heute geforderten wissenschaftlichen Standards. Die Ergebnisse der modernen empirischen Säuglingsforschung weisen unhaltbare Ableitungen und Übertragungen von der Erwachsenenpsychologie und von theoriegeleiteten Auffassungen auf die Situation des Säuglings nach und widerlegen damit z. B. die Vorstellung vom "psychodynamischen" Säugling. Diese unterstellt dem Säugling des frühesten Alters eine mentale Differenzierung nach adultomorphem Muster. Dies gilt besonders für Konzepte der > [[Kleinianischen Psychoanalyse, die für die früheste Zeit Spaltungsprozesse, Konfliktdynamismen (z. B. Liebe-Hass), spezifische Ängste (z. B. paranoide Vernichtungsängste), Abwehrmechanismen (z. B. Projektive Identifikation), Aggressivitäten usw. postulieren und damit den Säugling überschätzen und falsch interpretieren.
Deutlich mehr im Zentrum des Interesses der neuen psychoanalytischen Theorien über den Säugling (NPTS) stehen die seitherigen Unterschätzungen des Säuglings, sofern er für ein passives Reflexwesen gehalten worden ist, womöglich noch mit der Vorstellung, dass er in der monadisch-autistischen Isolation einer objektlosen Unbezogenheit lebe. Dem stellen die NPTS einen Säugling gegenüber, der mit einer wesentlich größeren sensorischen, kognitiven, interaktionellen und reflexiven Kompetenz ausgestattet ist. Allerdings wird teilweise ein allzu stürmischer Paradigmawechsel angestrebt und es geschehen neue Adultumorphismen und Überschätzungen des Säuglings der frühesten Phase.
Die NPTS wird deshalb mit Recht auch an dieser Stelle kritisiert (vgl. Zuriff, 1992/93; Üexküll u. a. 1996; Schulz-Klein 1999; Löchel 1996): Die erstaunlichen perzeptuellen und interaktionellen Fähigkeiten der Säuglinge dürfen nicht dazu verführen, erkenntnistheoretische Vorsicht (> Erkenntnistheorie) außer Acht zu lassen. Beobachtetes Verhalten kann keine absolut zuverlässigen Hinweise über Existenz und Art des daran beteiligten und vom Säugling erlebten Innenhorizontes geben. Von diesem epistemologischen Vorbehalt aus und von den empirischen Daten der Säuglingsforschung ist der Säugling in der frühesten postnatalen Zeit nicht als "in allen Bereichen kompetent aktiv und differenziert" (vgl. Dornes, 1993, S. 16) anzusehen. Vielmehr liegen die Wurzeln der Psyche mit großer Wahrscheinlichkeit im Dunkel eines biopsychischen Zwischenbereichs, bei dem sich psychische und organische Vorgänge noch nicht klar trennen lassen, und das erwachende psychische Leben sich in einem kontinuierlichen Psychifikationsprozess (> Psychifikation) von einfachen, prototypischen Formen hin zu immer größerer Differenziertheit entwickelt. Innerhalb des empirischen Kontextes der Säuglingsforschung bewähren sich wichtige entwicklungspsychologische Positionen der Analytischen Psychologie, wie das Modell der > Einheitswirklichkeit und der > Urbeziehung (Neumannn) oder der "Entelechie" des > Selbst bis hin zur Psychologie der; Archetypen.
Literatur: Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse; Schulz-Klein, H. (1999): Frühe Psychifikationsprozesse; Stern, D. N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings.
Autor: H. Schulz-Klein