Erinnern
Keyword: Erinnern
Links: > Abwehrmechanismen > Erleben > Deutung > Differenzierung > Integration > Katharsis > Prozess, therapeutischer > Wiederholen > Widerstand
Definition: Unter Erinnern (ahd. innaro: der Innere; ahd innaron: machen) wird die Fähigkeit verstanden, Vergangenes in der Vorstellung wieder zu beleben, sich eine Sache ins Gedächtnis zurückzurufen. Es wird zwischen explizitem und implizitem Erinnern unterschieden. Explizites Erinnern meint das bewusste Wissen von etwas, z. B. von einem Lebensereignis, einer mathematischen Formel oder einem Gegenstand („wissen, dass [..] „). Implizites Erinnern bezieht sich auf ein unbewusstes Wissen von etwas, etwa von Handlungsabläufen wie Schreiben, Sprechen oder Musizieren, die größtenteils „automatisch“ ausgeführt werden können. Das Wissen um sich selbst (Selbstbewusstsein) ist dabei an ein explizites Erinnern gekoppelt und kann entsprechend erzählt werden (sog. “narrative Identität“).
Information: C. G. Jung untersucht das Erinnern insbesondere in seinen Studien zur > Assoziation und zum > Assoziationsexperiment (Jung, GW 2). Erinnern unbewusster Ereignisse tritt hier auf als ein plötzliches Bewusstwerden (z. B. im Assoziieren) gefühlsbetonter Komplexe (> Komplex), um welche das jeweilige Erinnerungsmaterial gruppiert ist. Je negativer ein „Erinnerungskomplex“ emotional getönt ist, desto länger werden die Zeiten von Reaktion bzw. Assoziation. Dieses assoziative Erinnern ist eine Gegenfunktion des Unbewussten zum Verdrängen (> Verdrängung), d. h. des mehr oder weniger bewussten Vergessens infolge der Unvereinbarkeit mit dem Ich-Komplex. In späteren Ausführungen zur Komplextheorie präzisiert Jung das plötzliche bewusste Erinnern eines aktiven Komplexes als Durchbrechen der Kontinuität und Einheit des Bewusstseins, in welchem zugleich der > Ich-Komplex kurzfristig durch den gefühlsgeladenen Komplex ersetzt wird. In “Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes“ (Jung, GW 8, § 443-529) weist er, neben den bekannten Erinnerungskomplexen in Träumen, auf die zugleich eingeflochtenen schöpferischen Ideen hin, die den Trauminhalt zum > Symbol machen und ebenfalls in der Traumdeutung sichtbar werden müssen. Als weitere Form des Erinnern beschreibt Jung die „verborgene Erinnerung“ (Kryptomnesie), und meint damit das unbewusste Einflechten ehemals gewusster Inhalte in kreativen Prozessen, wobei das Erinnern nicht als es selbst bewusst wird, sondern dessen Inhalt als eigene Schöpfung erlebt wird.
Das Erinnern spielt in den Analytischen Psychotherapieformen eine zentrale Rolle, denn die Wahrnehmung und das Erinnern von belastenden Ereignissen, Erfahrungen, Eigenschaften, Handlungen, Komplexen (> Komplex), Konflikten (> Konflikt), Situationen, Traumata (> Trauma/Traumatisierung) etc. wird mithilfe der > Abwehrmechanismen oft verdrängt und kann dann zu psychischen Störungen, Symptomen und Neurosen (> Neurose) führen. Ziel der > Analyse ist es daher, diese Abwehr rückgängig und die psychischen Inhalte dem Erinnern und > Erleben zugänglich zu machen. Dadurch kann die, in ihnen durch die Abwehr gebundene, > Energie befreit und das Erlebens- und Verhaltensspektrum erweitert werden.
„Man kann sich natürlich von der Kindheit nicht befreien, ohne dass man sich ausgiebig mit ihr beschäftigt, wie man aus den Freudschen Forschungen schon lange weiß. Mit einem bloß intellektuellen Wissen ist es dabei nicht getan, sondern wirksam ist nur eine Wiedererinnerung, die zugleich ein Wiedererleben ist. Vieles bleibt wegen des raschen Flusses der Jahre und des überwältigenden Einströmens der eben entdeckten Welt unerledigt zurück. Davon hat man sich nicht befreit, sondern bloß entfernt. Kehrt man also aus späteren Jahren wieder zur Kindheitserinnerung zurück, so findet man dort noch lebendige Stücke der eigenen Persönlichkeit, die sich umklammernd an einen anschließen und einen mit dem Gefühl der früheren Jahre wieder durchströmen. Jene Stücke sind aber noch im Kindheitszustand und deshalb stark und unmittelbar. Nur wenn sie mit dem erwachsenen Bewusstsein wieder verbunden werden, können sie ihren infantilen Aspekt verlieren und korrigiert werden. Dieses «persönliche Unbewusste» muss immer zuerst erledigt, das heißt, bewusst gemacht werden, sonst kann der Eingang zum kollektiven Unbewussten nicht eröffnet werden.“ (Jung, GW 12, § 81)
Das Erinnern wird dabei meist nicht durch einen kurzfristigen Akt der > Deutung ermöglicht, sondern durch ein behutsames Annähern und Umkreisen des abgewehrten psychischen Inhaltes, wobei der, dem Erinnern entgegengesetzte, > Widerstand sorgfältig berücksichtigt werden muss (> Durcharbeiten). Das Erinnern kann nicht erzwungen werden, sondern stellt sich in der Regel dann spontan ein, wenn das psychische System in der Lage ist, den Inhalt auch emotional zu integrieren (> Integration). Oft geht dem Erinnern ein wiederholtes (> Wiederholen > Wiederholung/Wiederholungszwang) unbewusstes > Agieren, Inszenieren (> Inszenieren/Inszenierung) und Projizieren (> Identifikation, projektive > Projektion) des verdrängten psychischen Inhaltes voran. Auch muss berücksichtigt werden, dass Erinnerungen häufig Konstruktionen sind (> Konstruktivismus), da sich die tatsächlich vorgefallenen Ereignisse, aufgrund der subjektiven Perspektive und Wahrnehmungsselektion, nicht wirklich rekonstruieren lassen.
Aber auch konstruierte Erinnerungen können entlastende und befreiende Wirkung haben, denn es kommt bei der > Deutung und beim > Verstehen unbewusster Zusammenhänge nicht unbedingt auf eine „objektive Wahrheit“ an, sondern auf die subjektiv erlebte „Passung“ und „Stimmigkeit“, die von einem anderen Standpunkt aus auch illusionär sein kann. “Was wir Illusionen nennen, ist vielleicht eine seelische Tatsächlichkeit von überragender Bedeutung. Die Seele kümmert sich wahrscheinlich nicht um unsere Wirklichkeitskategorien. Für sie scheint in erster Linie wirklich zu sein, was wirkt.“ (Jung, GW 16, § 111)
Literatur: Freud, S. (1914): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten; Streeck, U. (Hrsg.]]) (2000): Erinnern, Agieren und Inszenieren.
Autor: J. Schlimme