Mutterarchetyp

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Keyword:Mutterarchetyp

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Definition: Der Hintergrund des Bildes der Großen Mutter (> Mutter, Große) - psychologisch betrachtet - ist der viel umfassendere Mutterarchetypus, der ein präexistentes, dem kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) angehörendes, präformierendes und in diesem Sinne unanschauliches Strukturelement (> Archetyp) der > Psyche ist. (vgl. Jung, GW 9, 1, § 148f) Der Mutterarchetyp (> Elementarcharakter/Wandlungscharakter) bewirkt - in seinem, dem Archetyp eigenen Doppelaspekt konstelliert - in der Psyche entsprechende Fantasien (> Fantasie), Gedanken, Gefühle, (> Emotion > Fühlen/Fühlfunktion) Strebungen, (> Instinkt) Handlungen und Motivationen (> Motivation) wachstumsfördernder, bzw. wachstumshemmender "mutterspezifischer" Art (vgl. Asper, 1987).

Information: Praktisch gesehen bedeutet die Verankerung der Konzepte der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) im kollektiven Unbewussten (vgl. Obrist, l990), dass hinter der persönlichen Mutter (> Eltern > Mutterkomplex) der Mutterarchetyp steht und je nach Anlage und individueller Lebenserfahrung eher lebensfördernd, bzw. eher lebensverneinend wirkt. In diesem Sinne bedeutet Mutter immer mehr als die persönliche Mutter; Mutter ist ein das lebenslang wirksame, archetypische Streben der Psyche nach Mütterlichkeit, Geborgenheit und Aufgehobensein, das sich regressiv (> Energie > Regression) und lebenshemmend bemerkbar machen kann, aber auch als zukunftsgerichtete Sehnsucht (> Finalität) und Suche nach der, im Hier und Jetzt möglichen, Realisation der archetypischen > Konstellation und ihrer Gestimmtheit wirkt. Der Mutterarchetyp als Strukturelement des kollektiven Unbewussten ist nicht statisch, sondern prozessorientiert und deshalb entwicklungspsychologisch (> Entwicklungspsychologie) gesehen von größter Bedeutung; je nach Anlage und Umwelterfahrung prägt er die Mutter-Kind-Beziehung. Von seiner ausreichend guten Konstellation hängt die positive "Urbeziehung" (Neumann, l963, S. 10) zwischen Mutter und Kind ab, welche von weitreichender Bedeutung für die optimale Ich-Selbst-Entwicklung (> Ich-Selbst-Achse) ist. Die positive Urbeziehung konstelliert (> Konstellation) im Kinde die psychobiologische > Ganzheit, sein > Selbst, und ist mit ihren wachstumsfördernden Medien die notwendige Voraussetzung für integrierte Ich-Funktionen, (> Ich, integrales) Wandlungsmöglichkeiten (> Wandlung) und > Individuation im Sinne der Selbstwerdung. Ist indes der Mutterarchetyp in seinem lebenshemmenden Aspekt wirksam, so wird das Selbst ungenügend konstelliert, bleibt ein "beschattetes Selbst"(Asper, 1987, S. 66ff). Die Urbeziehung steht im Zeichen des Misstrauens und der existenziellen Unsicherheit und die Ich-Funktionen integrieren sich in unzureichender Form (> Not-Ich).

E. Neumann, der innerhalb der Analytischen Psychologie als erster den entwicklungspsychologischen Gedanken auf eine breitere Basis gestellt hat und die Interaktion von Mutter und Kind betont, bindet sich zur Zeit der Niederschrift seines Buches „Das Kind“ (1963) in die Deprivationsforschung bzw. John Bowlby's Theorie über Bindung und Verlust (> Bindung) ein, ferner ist sein Ansatz bezüglich der Urbeziehung und ihrer Störung weitgehend in Kongruenz mit Balints "Grundstörung" (vgl. Balint, l970). Beinahe gleichzeitig mit Neumann arbeitet M. Fordham (l974) ebenfalls ein entwicklungstheoretisches Modell innerhalb der Analytischen Psychologie aus. Allerdings ist es in der Analytischen Psychologie zu keiner, für die Schulrichtung verbindlichen, Entwicklungstheorie gekommen. Seither hat sich die Tiefenpsychologie auf breiter theoretischer und empirischer Basis der Mutter-Kind-Beziehung angenommen: Die Bindungstheorie wird entwickelt und verfeinert; die sogenannten Frühstörungen und deren Folgen werden in der intensivierten Narzissmusdiskussion (> Narzissmus) und > Selbstpsychologie psychoanalytischer Prägung weitergeführt. Die moderne > Säuglingsforschung schließlich stellt Neumanns ursprünglichen Ansatz und seine Grundannahmen der Interaktion von Mutter und Kind auf eine überzeugende und breite empirische Basis von weitreichender theoretischer und psychotherapeutischer Konsequenz. Innerhalb der Analytischen Psychologie ist es Jacoby, der die Ergebnisse der Säuglingsforschung mit den Archetypen (> Archetyp) und der > Komplextheorie der Analytischen Psychologie verbindet und differenziert nachweist, wie interaktionelle, affektive Erfahrungen mit den Bezugspersonen zusammen mit Anlagefaktoren und Umweltbedingungen auf die Entwicklung der psychischen Strukturen einwirken. (vgl. Jacoby 1998)

Literatur: Asper, K. (1987):Verlassenheit und Selbstentfremdung; Jacoby, M. (1980): Sehnsucht nach dem Paradies; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse; Neumann, E. (1956): Die große Mutter.

Autor: K. Asper