Polarität
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Definition: Polarität (griech. polos: Himmelsgewölbe am Pol) bezeichnet die Entfaltung einer Wesenseinheit in zwei entgegengesetzte, sich aber zugleich bedingende oder ergänzende Richtungen. In den verschiedenen philosophischen (> Philosophie), psychologischen und religiösen (> Religion) Systemen wie auch im Alltagsleben werden immer wieder universale Polaritätspaare beschrieben und erlebt: Sein und Nicht-Sein, Materie und Energie, Leben und Tod, Dynamik und Stabilität, Ein und Aus, Ja und Nein, Innen und Außen, Oben und Unten, Links und Rechts, Hinten und Vorne, Vor und Zurück, Aufstieg und Abstieg, Loslassen und Handeln, Vergangenheit und Zukunft, Jung und Alt, Körper und Geist, Weiblich und Männlich, Gut und Böse, Wahrheit und Täuschung, Schönheit und Hässlichkeit, Macht und Liebe, Bewusstes und Unbewusstes.
Information: Diese Polaritäten werden manchmal zu Quaternitäten (> Quaternität/Quaternio) oder zu noch differenzierten Modellen miteinander verbunden (> Integrale Psychologie > Mandala > Pentaolon-System), beispielsweise bei den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde, den vier Jahreszeiten und den vier Himmelsrichtungen. Diese vierfache Anordnung hat Bezug zu dem universalen Symbol des Kreuzes, dem eine außerordentliche Bedeutung in vielen Kulturen zukommt. Die Bedeutung des Kreuzes ist keineswegs auf die christliche Kultur beschränkt. Aber Christus am Kreuz vermittelt ein Bild der absoluten Gegensatzspannung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Das Kreuz ist vielleicht der intensivste Ausdruck der Gegensätze in unserer Kultur. Es ist auch ein Bild des existenziellen Ausgespanntseins des Menschen zwischen einem Oben und Unten, zwischen dem Dunklen und dem Hellen, zwischen Himmel und Erde oder zwischen Himmel und Hölle. Ein überheblicher Rationalismus pflegt über solche Bilder zu lächeln. Inzwischen belehren uns aber die apokalyptischen Möglichkeiten der Weltmächte und der Weltgeschichte, dass die Ausdrücke "Himmel und Hölle" nicht schlecht gewählt sind, um das auszudrücken, was mit unserer Erde geschieht oder geschehen kann.
Polaritäten sind der Herzschlag und der Atem des Lebens. Sie bestimmen die Dynamik des körperlichen, seelischen und sozialen Geschehens. Sie sind die Basis schöpferischer Entwicklung oder destruktiver Konflikte im Menschen wie in der Welt. Je nachdem, ob sie in einer ausgewogenen, lebendigen Spannung, in einem dynamischen Fließgleichgewicht zueinander stehen oder ob sie sich einander hemmen oder blockieren, bleibt ein System gesund oder wird krank. Schließen sich die Pole aus, entwickeln sich entsprechende Einseitigkeiten, es konstellieren sich innere und äußere Konflikte bis hin zu Katastrophen und Kriegen.
Erkenntnistheoretisch muss die Frage natürlich offen bleiben, ob die Polaritätsstruktur des Lebens und der Natur das Vorgegebene und unsere psychische und gesellschaftliche Struktur die Folge ist oder ob die Gegensatzstruktur ein a priori unseres Erkenntnisapparates ist und wir demzufolge entsprechend verstehen und erklären. Aber ob wir uns für das eine oder das andere entscheiden, das Erleben in Polaritäten bleibt gegeben.
Das Konzept der polaren Struktur der Psyche ist dementsprechend grundlegend für C. G. Jungs Verständnis seelischer Prozesse, es taucht bei ihm aber nicht unter dem Begriff der Polarität auf, sondern er spricht von > Gegensatz und Gegensatzvereinigung (> Coniunctio/Mysterium Coniunctionis), von Antinomien und der Unumgänglichkeit von Paradoxien. (> Paradoxon/Paradoxie/Paradoxität) Für ihn gibt es ohne Polarität keine Bewusstheit und keine Position ohne ihre Negation. Nichts existiert, von dem nicht auch der Gegensatz denkbar oder lebbar wäre. Sein Alterswerk "Mysterium conjunctionis" hat Jung der Gegensatzstruktur gewidmet. Im Untertitel kennzeichnet er es als eine Untersuchung über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der > Alchemie. In der Alchemie geht es um den Stein der Weisen (> Stein der Weisen (Lapis philosophorum)), der die Quintessenz, die > Synthese der Grundpolaritäten des Lebens (z. B. Feuer, Wasser, Luft und Erde, das Männliche und das Weibliche Prinzip (> Männliches und Weibliches Prinzip) darstellt. In der Analytischen Psychologie geht es um die > Ganzheit des > Selbst, welche die spannungsreiche Summe aller Paradoxien und Polaritäten ist, denen der Mensch ausgesetzt ist und die sich ihm im > Individuationsprozess nach und nach entfaltet. „Jeder Mensch", so Jung, "der auch nur annähernd seine eigene Ganzheit sein möchte, weiß, dass sie eine Kreuztragung bedeutet" (Jung, GW 11, § 265). Alle die oben angesprochenen Polaritäten und noch viele weitere spielen dabei eine wesentliche Rolle: Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein) und > Selbst Bewusstes und Unbewusstes > Persona und > Schatten > Geschlechtsidentität und > Anima/Animus. Vier > Orientierungsfunktionen (> Typologie) stehen sich polar gegenüber. Sind alle vier Funktionen differenziert, besitzt der Mensch ein umfassendes und sehr hilfreiches Instrumentarium für das Welt- und Selbstverständnis. Jede der Funktionen ist mit der Polarität > Extraversion und > Introversion verbunden. Die Neurosenlehre geht von polar angeordneten psychischen Faktoren oder Prozessen aus, von denen je ein Pol weitgehend unbewusst und damit auch undifferenziert ist. Die bei Jung verwendete Polarität von Trieb und > Geist, später von > Instinkt und > Archetyp, Natur und Kultur erscheint hier grundlegend. Auch der Heilungsprozess (> Heilen/Heilung > Neurose > Prozess, dialektischer), wie ihn die > Analytische Psychologie versteht, ist unter polarem Gesichtspunkt zu sehen: Einseitig dominant und nur noch gegensätzlich gewordenen Pole sollen mithilfe der > Selbstregulation und der transzendenten Funktion (> Funktion, transzendente) miteinander verbunden werden, damit das Leben und seine Energien (> Energie > Libido) wieder fließen können. Die Blockaden, welche die Möglichkeiten polarer Beziehungen behindern, werden Stück für Stück abgebaut, die Fülle des Lebens wird zugänglich. Die entstehende Verbindung zwischen den Polen ist meist mit intensiver Angst verbunden, ein deutlicher Hinweis, welche Energien in dem jeweiligen Pol festgehalten sind, die dem Leben nicht zur Verfügung stehen. Ohne die Verbindung der Pole kann auch kein Erlebnis einer inneren Mitte entstehen, es gibt nur das Gefühl der Leere bei hoher innerer Anspannung und Verkrampfung, verbunden mit dem Gefühl geladen zu sein oder auf einem Vulkan zu sitzen. Deshalb ist die Bezogenheit der Pole Voraussetzung von seelischer Gesundheit und gelingendem Leben. Jung hat in dieser Bezogenheit und Verbundenheit - von ihm auch als Vereinigung der Gegensätze beschrieben- eine zentrale Bedeutung für den gesamten Lebensprozess erkannt und dieser enormen Dynamik mit seinem Archetyp der Coniunctio auch ein begriffliches Fundament gegeben. (vgl. Jung, GW 14/1, 14/2, 14/3): "Erst mit dem Mysterium coniunctionis war meine Psychologie endgültig in die Wirklichkeit gestellt und als Ganzes historisch untermauert. Damit war meine Aufgabe erledigt, mein Werk getan [..] In dem Augenblick, wo ich den Boden erreichte, stieß ich gleichzeitig an die äußerste Grenze des mir wissenschaftlich Erfassbaren, an das Transzendente, das Wesen des Archetyps an sich, worüber sich keine wissenschaftliche Aussage mehr machen lässt. " (Jung, Jaffé, 1962, S. 225). Der Kampf und das Spiel der Polarität, ihr fortwährendes Sich-Trennen und Einander-Verbinden reicht wohl von den Anfängen unseres Universums bis zum Ende aller Zeiten: "Gestaltung - Umgestaltung des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung" (Goethe).
Literatur: Schlegel, L. (1977): Die Psychodynamik der Polarität in der Psychologie von Jung; Seifert, T. (1981): Lebensperspektiven der Psychologie.
Autor: T. Seifert