Desidentifikation

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Keyword: Desidentifikation

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Definition: Desidentifikation ist der Gegenbegriff zu > Identifikation (lat. identitas: Wesenseinheit; identifizieren: aus innerer Überzeugung ganz mit etwas oder jemand übereinstimmen) und wird vor allem in der Integralen Psychologie (> Integrale Psychologie) und Transpersonalen Psychologie (> Transpersonale Psychologie) verwendet, um die Ablösung des Ich-Bewusstseins (> Ich/Ich-Bewusstsein) von psychischen Inhalten, mit denen es sich identifiziert hat, zu beschreiben und dadurch eine beobachtende > Bewusstheit zu kultivieren (der „innere Zeuge“).

Information: > Identifikation und Desidentifikation als Polaritätspaar spielen auch in der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie), in der Beziehung zwischen Bewusstem (> Bewusstsein) und Unbewussten (> Unbewusstes), eine wesentliche Rolle, werden dort aber nicht immer so benannt. Im Bewusstseinsdifferenzierungsprozess geht es fortwährend um ein unterscheidendes Herauslösen und Ablösen aus unbewussten Voraussetzungen, Identitätszuständen (> Identität > Participation mystique) und Identifizierungen (Vorstellungen, Konzepten, Komplexen (> Komplex), Rollen, Zuständigkeiten, Zuschreibungen etc.) und um die Rücknahme von Projektionen (> Projektion) (s. a. > Identifikation, projektive).

Der analytische Prozess des Beobachtens, Erkennens und Verstehens (> Verstehen) stellt in gewissem Sinn eine kontinuierliche Depersonalisation/Derealisation dar. Allerdings muss die Depersonalisation/Derealisation in einer polaren Wechselwirkung zur Fähigkeit der Identifikation gesehen werden, denn die Identifikation ist u. a. die Grundlage von > Beziehung, > Empathie und > Kreativität. Man muss sich mit einem Menschen oder einer Aufgabe emotional verbinden und partiell verschmelzen, in ihm „ganz aufgehen“ können, wenn man einen lebendigen, schöpferische Kontakt zu ihm haben möchte. Ansonsten – bei einer übermäßigen Neigung zu Desidentifizierung – besteht die Gefahr der > Affektisolierung, > Intellektualisierung, > Rationalisierung und > Spaltung.

Depersonalisation/Derealisationen vollziehen sich im Lebens- und > Individuationsprozess oft, ohne dass man angeben könnte, worin die genauen Ursachen liegen. Manchmal ist es eine > Krise, eine Ent-Täuschung, manchmal ist es einfach das, was man Erfahrung oder „Älterwerden“ nennt. C. G. Jung hat es gelegentlich als „Überwachsen“ bezeichnet. Da für ihn die wichtigsten und größten Lebensprobleme nicht wirklich lösbar sind, weil sie die notwendige > Polarität des Lebens ausdrücken, können sie nur überwachsen werden: „Dieses „Überwachsen“, wie ich es früher nannte, stellte sich bei weiterer Erfahrung als eine Niveauerhöhung des Bewusstseins heraus. Irgendein höheres und weiteres Interesse trat in den Gesichtskreis, und durch diese Erweiterung des Horizontes verlor das unlösbare Problem die Dringlichkeit. Es wurde nicht in sich selber logisch gelöst, sondern verblasste gegenüber einer neuen und stärkeren Lebensrichtung. Es wurde nicht verdrängt und unbewusst gemacht, sondern erschien bloß in einem anderen Licht, und so wurde es auch anders. Was auf tieferer Stufe Anlass zu den wildesten Konflikten und zu panischen Affektstürmen gegeben hätte, erschien nun, vom höheren Niveau der Persönlichkeit betrachtet, wie ein Talgewitter, vom Gipfel eines hohen Berges aus gesehen. Damit ist dem Gewittersturm nichts von seiner Wirklichkeit genommen, aber man ist nicht mehr darin, sondern darüber.“ (Jung, GW 13, § 24)

Literatur: Müller, L. (1996): Trotzdem ist die Welt ein Rosengarten.

Autor: L. Müller