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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Chaos
Links: > Alchemie > Alchemie, Phasen des Werkes > Bewusstsein > Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien > Chaostheorie > Drachenkampf > Pleroma > Unbewusstes
Definition: Das griechische Wort Chaos bedeutet „gähnender Abgrund“ oder „abgrundtiefe Leere des Raums“. Viele Schöpfungsmythen beginnen mit Bildern des Chaos wie „die in Finsternis getauchten Wasser, eine formlose Masse, ein vermengtes Ganzes, in dem eine Abgrenzung nicht möglich ist, das kosmogonische Ei, ein Meerungeheuer, ein Ur-Riese usw.“ (Eliade, 1977). In archaischen Gesellschaften wurde der unbekannte Raum dem Chaos gleichgestellt, die Orientierung erfolgt durch das Achsenkreuz (> Mandala) der vier Himmelsrichtungen. Rituale der orientatio wiederholen symbolisch die Kosmogonie.
Information: In Hesiod‘s Theogonie stehen zwei Prinzipien am Anfang, „Chaos das gestaltlose und Erde, die gestalthafte. Sie sind eher Urgründe als Ursprünge, sie gebären auch ohne ein zeugendes Paar miteinander zu bilden.“ (Kerényi, 1978, S. 195) In der orphischen Kosmogonie gebärt die Nacht das Welt-Ei, aus dem Eros entsteht. Dieser auch Phanes genannte Lichtgott hat androgyne (> Androgynie) Züge und enthält den Samen aller Götter, Menschen und Dinge. In Ägypten ist Nun eine grenzenlose, dunkle Wasserfläche mit Keimen der Schöpfung in sich. In ihr bildet sich ein Lehmhügel, auf dem der vielgestaltige Ur-Gott auftaucht, der auch aus einem Ur-Ei dort hervorgehen kann. Mit diesem Ur- oder Schöpfergott (Atum, Ptah) verbindet sich später der Sonnenaspekt (Atum-Re), der als Repräsentant der kosmischen Ordnung den weiterhin existenten Mächten des Chaos (Apophis-Schlange) gegenübersteht. In Babylonien wird das Chaos als Urmeer mit einem Seeungeheuer dargestellt, die Tiamat. Marduk, der Sonnenheld, tötet das Ungeheuer und bildet aus seinem zergliederten Körper den Kosmos. Der Drache versinnbildlicht hier „das nicht Manifestierte, das vor der Schöpfung unzerteilte Eine“ (Eliade, 1977, S. 26). Im biblischen Schöpfungsmythos ist die Erde zunächst ein finsteres Urmeer, ein Tohuwabohu (wüst und leer). Dann wird Licht, und es entstehen Himmel und Erde. In vielen Schöpfungsmythen vollzieht sich der Übergang vom Chaos zur Ordnung durch die Trennung von Himmel und Erde.
Kosmogonische Vorstellungen wie das Welt-Ei oder das Wasser bzw. Urmeer tauchen als philosophisches Ei oder aqua permanens bzw. prima materia im alchemistischen Opus (> Alchemie > Alchemie, Phasen des Werkes) wieder auf, welches die untere Entsprechung zum Schöpfungswerk Gottes darstellt. Der Urzustand der Materie, prima materia bzw. massa confusa oder massa informis, entspricht dem Chaos, welches von Lebenssamen geschwängert oder von Lichtfunken, den scintillae (> Lumen > Luminosität), durchsetzt ist. Die darin, in nuce enthaltene, neue Form der Materie entspricht nach C. G. Jung den reinen Formen der platonischen Ideen und damit den Archetypen (> Archetyp) des Unbewussten (> Unbewusstes). Anhand der scintillae im Chaos entwickelt Jung die Vorstellung vom Unbewussten als multiples Bewusstsein. (Jung, GW 8, § 388 ff.) Psychologisch bedeutet das Chaos den unbewussten Anfangszustand, die unbewusste > Identität, in dem das Ich-Bewusstsein keimhaft angelegt ist. Das Symbol dafür ist der > Uroboros als das gegensatzenthaltende, vollkommene Große Runde (> Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien), der die Totalität der Welt als Anfang und Ende gleichermaßen umfasst. Hier muss therapeutisch „gegenüber der emotionalen Turbulenz eine vernunftgemäße, überlegene geistig-seelische Position“ (Jung, GW 14/2, § 356) errichtet werden. Dies entspricht der Phase der > Differenzierung und Trennung (separatio) der inzestuösen unio naturalis (> Inzestfantasie) und der Rücknahme (> Integration) der Projektionen (> Projektion). Bei einer zu einseitigen, starren Bewusstseinshaltung ist dagegen eine Auseinandersetzung des Ich-Bewusstseins mit dem Unbewussten erforderlich. Im „Zusammenstoß der männlich-geistigen Vaterwelt, des Rex Sol, mit der chthonisch-weiblichen Mutterwelt der aqua permanens resp. des Chaos“ (Jung, GW 14/2, § 170) muss das Ich-Bewusstsein auf die rationale Kontrolle des Unbewussten verzichten und seine Ohnmacht akzeptieren (vgl. dazu auch > Bewusstsein, matriarchales > Bewusstsein, patriarchales > Bewusstsein, schöpferisches).
Literatur: Eliade, M. (1977): Schöpfungsmythen; Franz, M. -L. v. (1990): Schöpfungsmythen; Neumann, E. (1949): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins.
Autor: M. Krapp