Wissenschaftstheorie

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Links: > Analytische Psychologie > Erkenntnistheorie > Psychoanalyse > Mystik > Positivismus > Synchronizität > > Wissen, absolutes

Definition: Wissenschaften verstehen sich als rationale Systeme zur Erkenntnisgewinnung (> Erkenntnistheorie) und grenzen sich ab gegen Wissen und Erkenntnisse, die aufgrund von bloßem Glauben, Erfahrungen, überlieferten Weisheiten etc. entstehen. Wissenschaftstheorie untersucht die Grundlagen, Grundannahmen, Methoden, mit denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen werden. Die europäisch-abendländischen Wissenschaften haben sich aus dem Geist der antiken Philosophie entwickelt, erst mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit entstanden die Naturwissenschaften. Ihr spezifisches materialistisches und positivistisches Wissenschaftsverständnis (> Materie/Materialismus > Positivismus) hat sich dann allmählich zum allgemeinen Wissenschaftsverständnis entwickelt. Seither verfügt jede wissenschaftliche Disziplin als Einzelwissenschaft über spezifische Erkenntnisbereiche und spezifische Methoden, diese zu analysieren. Alle Aussagen, die als wissenschaftlich anerkannt sein wollen, müssen allgemein nachvollziehbar, falsifizierbar und verifizierbar sein. die > [[Tiefenpsychologie sieht sich seit ihrem Beginn immer besonderer Kritik bzgl. ihrer Wissenschaftlichkeit ausgesetzt (> Psychotherapieforschung, auch vonseiten der akademischen, wissenschaftlichen, experimentellen Psychologie.

Information: S. Freud (> Psychoanalyse) und in geringerem Maße C. G. Jung (> Analytische Psychologie) sind von den materialistischen Vorstellungen ihrer Zeit beeinflusst. Aus dieser Orientierung stammen grundlegende Vorstellungen Freuds über die Struktur des Unbewussten und die dazugehörigen Begriffe, wie z. B. "psychischer Apparat", "Objekt", "Subjekt" oder die genaue Differenzierung der Prozesse der Traumarbeit, die mit physikalischen Vorgängen fast vergleichbar ist. Im Grunde aber bedient sich nur die Sprache Freuds solcher mechanistisch-materialistischer Termini, die Inhalte und die Wege, auf denen er zu seinen Erkenntnissen kommt, sind in hohem Maße intuitiv, idealistisch und gleichen einer Mythenbildung (> Mythos). Die Beschäftigung mit dem psychischen Unbewussten als solche ist ja schon ein Gegensatz zum Physikalismus per se.

Die Assoziationsexperimente Jungs sind ebenfalls nach empirisch-positivistischen Kriterien konzipiert. Er beruft sich generell auf Empirie und die Evidenz der spontanen Erfahrung, zugleich aber schon von Anfang an auch auf die Philosophie- Beispielsweise haben I. Kants Verstandeskategorien, Platons Ideenlehre, F.W. Schellings "absolutes Ich", A. Schopenhauers transzendenter Wille, F.W. Nietzsches und H. Bergsons Lebensphilosophie seine Theorienbildung beeinflusst, ebenso die Romantiker. Vor allem Schelling und C. G. Carus mit ihrer Annahme eines vitalen Prinzips, einer alldurchwaltenden Lebenskraft oder Weltseele sind für Jung geistige Vorbilder. Carus ist überzeugt von der dominierenden und lebensnotwendigen Bedeutung des Unbewussten. Er postuliert ein absolutes und ein relatives Unbewusstes, und versteht unter dem absoluten Unbewussten eine eingeborene Wesenheit, die nicht irrt.

In seinem Alterswerk, etwa den Schriften zur > Synchronizität, zeigt sich die eigentliche Fundierung der Vorstellungswelt Jungs deutlich. Für ihn bringt das Phänomen Synchronizität die Dimension des > Sinnes in die Erfahrungswelt mit ein, und er untermauert seine psychologischen Theorien u. a. mit Vorstellungen aus dem > Taoismus, > Mystik (> Philosophie, östliche), dem > Hinduismus, > Tantrismus und Zen (> Buddhismus).

Vom methodischen Gesichtspunkt her sind Psychoanalyse und Analytische Psychologie ein hermeneutischer Prozess des Verstehens (> Hermeneutik), der sich darüber hinaus auch noch auf das schwierige und ungreifbare Feld der emotionalen Erlebnisprozesse und Symbolbildungen (> Symbol) bezieht. Im Vergleich zur Naturwissenschaft fehlt hierbei die Beweislogik, ist der Ansatz interpretativ, werden allgemeine Aussagen aus wenigen Fällen abgeleitet, ist das Material nicht allgemein zugänglich, lassen sich Verhaltensvoraussagen nur sehr ungenau treffen. Die Prozesse und Interventionen können nur ansatzweise operationalisiert werden. Eine Unterwerfung der > Analytischen Psychologie unter ein neopositivistisches Verständnis würde von ihrem Forschungsgegenstand - die komplexe, individuelle, weitgehend unbewusste, lebendige Psyche - nicht viel übrig lassen.

In neueren wissenschaftstheoretischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts wird aber generell der positivistische Forschungsansatz wieder stark relativiert. K. Poppers kritischer Rationalismus arbeitet die Erkenntnis aus, dass Wahrheit zwar Ziel, aber immer nur relativ möglich und Theorie im Wesentlichen zuerst ein kreativer Akt sei. Damit verhilft er der Intuition des Forschers, der Theoriebildung, der > Idee und der > Kreativität wieder zur Geltung. Ein Schüler Poppers, P. Feyerabend, belegt, dass fast alle neuen, fortschrittlichen Theorien nur gewonnen werden, weil bei ihrer Entstehung die geltenden methodischen Richtlinien nicht eingehalten worden sind. Er betrachtet Wissenschaft und wissenschaftliche Theorie prinzipiell als Ideologie und betont damit ihren Charakter der prinzipiellen Relativität.

Parallel zu Popper entwickelte T. Kuhn seine Vorstellung vom wissenschaftlichen Erkenntnisprozess: Er fasst ihn nicht als klar und zu steigender Objektivität hin führend auf, sondern sozusagen als magnetisch. Die in einer Zeit herrschenden Paradigmen versammeln um sich herum so lange Belege ihrer eigenen Wahrheit, bis sich eine solche Menge an anderer, nicht mit diesen Maximen übereinstimmender Wahrheit ergeben hat, dass sich ein anderer magnetischer Pol - sozusagen als Opposition - in Form neuer Paradigmen ergibt und sich an diesem dieselbe Sammlungsbewegung wiederholt (> Polarität > Enantiodromie > Gegensatz)

In der > Physik sind in neuerer Zeit Erkenntnismodelle entstanden, die Jungs Vorstellungen der anima mundi oder des > Unus mundus nahe kommen. In Folge der Relativitätstheorie und der Quantentheorie ist die S-Matrix-Theorie von G. Chew entwickelt worden, die - vereinfacht gesagt - das Universum als ein dynamisches Gewebe untereinander verbundener Geschehnisse betrachtet, in dem die Eigenschaften jedes Teils die der anderen beeinflusst. Seit Anfang der 80er Jahre sprechen viele Physiker vom holografischen Weltbild, in dem die Welt als Holgramm (> Holon) betrachtet wird, "bei dem jeder Teil im Ganzen und das Ganze in jedem seiner Teile ist." (vgl. Wilber, 1986, S. 9) Man kann in diesen Vorstellungen die Wiedergeburt der > Mystik] inmitten der exakten Physik erkennen und findet eine erstaunliche Nähe zu Jungs späten Gedanken.

In neuester Zeit unternahm K. Wilber den Versuch, Naturwissenschaft und Religion wieder zu versöhnen, indem er die Naturwissenschaft als das geeignete Mittel zur Entdeckung von Wahrheit und die Religion als Weg zur Erschaffung von Sinn bezeichnete. Insofern seien beide für den Entwicklungsprozess des Menschen erforderlich. Er öffnet und weitet hier auch den Begriff der Empirie: "Es gibt daher einen sinnlichen (der sensomotorischen Welt), einen geistigen (u. a. Logik, Mathematik, Semiotik, Phänomenologie und Hermeneutik) und einen spirituellen Empirismus (Erfahrungsmystik, spirituelle Erfahrungen)." (Wilber, K., 1998) Einer vergleichbaren Auffassung ist W. Obrist (1985, 1990, 1999), wenn er feststellt, dass mit der Tiefenpsychologie ein neuer Typus empirischer Wissenschaft entstanden ist, der seiner eigenen Methodik bedürfe (> Erkenntnistheorie).

Literatur: Giegerich, W. (1983): Die Herkunft der Psychologischen Erkenntnisse C. G. Jungs; Obrist, W. (1999): Die Natur - Quelle von Ethik und Sinn; Popper, K. R. (1973): Objektive Erkenntnis; Wilber, K. (1998): Naturwissenschaft und Religion - Die Versöhnung von Wissen und Weisheit.

Autor: D. Knoll