Unbewusstes

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Keyword: Unbewusstes

Links: > Analytische Psychologie > Funktion, transzendente > Psychoanalyse > Tiefenpsychologie > Symbol)> Unbewusstes, persönliches > Unbewusstes, kollektives > Unterbewusstsein

Definition: Der Begriff des Unbewussten ist zunächst eine "negative" Beschreibung, insofern er jene Inhalte bezeichnet, die nicht bewusst (> Bewusstheit > Bewusstsein) oder nicht bewusstseinsfähig (> Unbewusstes, kollektives > Unbewusstes psychoides) sind. Es ist ein schwieriges Unterfangen, diesem Innenraum der Psyche eine irgendwie geartete Struktur zuzuordnen, weil seine Inhalte und Vorgänge nicht so auf das bewusste Ich-Erleben bezogen sind, dass sie von diesem ohne weiteres wahrgenommen werden können. Die Erkenntnis des Unbewussten bedeutet anzuerkennen, dass es eine Dynamik gibt, die den Menschen beeinflusst, deren Wirkmechanismen aber von der bewussten Welt her schwer zu durchschauen sind. Die eher bewusstseinsorientierten Forschungsrichtungen in der Psychologie und Anthropologie haben deswegen lange eine solche Dimension entweder negiert oder vom Forschungsprozess ausgeschlossen. (> Materialismus > Positivismus > Tiefenpsychologie)

Information: Ein Wissen von einer quasi unbewussten Welt, die teilweise mit der eigenen Person verknüpft ist, teilweise im Außen gesehen wird, ist jedoch im Bewusstsein der Menschen schon früh vorhanden. Auf frühen Entwicklungsstufen des Bewusstseins (> Bewusstseinsentwicklung) tritt das Unbewusste in einer archaischen Form (> Weltsicht, archaische) auf, etwa substanziiert als Seele, die den Körper verlassen kann (> Seelenverlust). Ebenso wird das Unbewusste erlebt im Zustand der > Besessenheit durch unbewusste, scheinbar von außen kommende Faktoren, etwa von Geistern und Dämonen. In den entsprechend geprägten Kulturen gibt es auch Umgangsweisen mit unbewussten Inhalten und mit Erkrankungen, die der modernen > Psychotherapie ähneln. In den [Mythologien und Religionen finden sich aus solchen magisch-mythischen Bewusstseinshaltungen resultierende Traditionen und Praktiken zur Heilung und Reinigung des Menschen: Ritual, Beichte, Gebet, Wallfahrt, Exorzismus usw. Sehr früh schon hat sich in Indien das Yoga als ein Teil der Religion entwickelt, das eine Konzentration auf den inneren Zustand der Seele anstrebt.

Auch in der Philosophie gibt es seit Anbeginn Vorstellungen von der Existenz eines Unbewussten, beispielsweise bei Plotin in der Antike, bei G. Leibnitz, insbesondere bei F. W. Schelling, dann bei J. F. Herbart und C. G. Carus, J.J. Bachofen, E. v. Hartmann und F. Nietzsche. (vgl. Ellenberger, 1985)

Mit der systematischen Erforschung der unbewussten Psyche eröffnet sich ein neues Modell vom Menschen. Der Mensch kann nun zunehmend verstanden werden als ein hochkomplexes (> Komplexität) dynamisches Gefüge aus kollektiven und individuellen Aspekten, die seine jeweilige Individualität bestimmen.

C. G. Jung kommt - nach anfänglicher Orientierung an S. Freud früh zu der Vermutung, dass die Psyche in Zuständen des Schlafes, des Somnambulismus, des > "abaissement du niveau mental" (Herabsenkung des Bewusstseins) zu schöpferischen Leistungen in der Lage ist und nimmt eine "hoch entwickelte intellektuelle Tätigkeit des Unbewussten" an. (Jung, GW 1, § 148) Seine Assoziationsexperimente bestätigen die Annahme der frühen > Psychoanalyse von der Dissoziation der Erinnerungen und Affekte. Sie weisen aber auch in eine andere Richtung, nämlich auf Zentren von großer emotionaler Bedeutung und tieferer Bestimmung. Deswegen unterscheidet er vom Bewusstsein und dem damit verknüpften Ich-Erleben die > Komplexe mit Persönlichkeitscharakter, die sich mehr vom Unbewussten her speisen oder gänzlich unbewusst sind (> Teilpersönlichkeit).

Jung nimmt deswegen ein persönliches Unbewusstes (> Unbewusstes, persönliches) und eine noch tiefere kollektive Schicht des Unbewussten an, und er geht davon aus, dass die Psyche letztlich auch eine unanschauliche, psychoide Natur hat. Das nicht persönliche, sondern unpersönliche Unbewusste stellt ein autonom in der Psyche wirkendes, der Einzelpsyche und dem Bewusstsein überlegenes dynamisches Potenzial dar, das weit über Wunscherfüllungstendenzen und sexuell-infantile Antriebe (> Instinkt) oder persönliche Antriebe (> Motivation) hinausreicht.

Diese Vorstellungen des Unbewussten werden zuerst in „Wandlungen und Symbole der Libido“ (vgl. Jung, GW 5) entwickelt und sind in Jungs gesamtem Werk in der zunehmenden Ausdifferenzierung seiner Überlegungen zum > Archetyp, zur > Selbstregulation der Psyche und des Individuationsprozesses von zentraler Bedeutung. Von Anfang an ist ein Ganzheitskonept zu erkennen, das Bewusstes und Unbewusstes einbezieht. Der entscheidende Faktor für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft ist deshalb die Beziehung und die Auseinandersetzung zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten. Dem Unbewussten wird eine schöpferische Qualität zugesprochen, die im Sinne eines Entwicklungsimpulses auf das Bewusstsein kompensierend und korrigierend einwirken kann. Umgekehrt ist aber nur das individuelle Bewusstsein eines konkreten Individuums fähig, individuelles Leben zu gestalten.

Die Beschäftigung mit dem Phänomen der > Synchronizität (vgl. Jung, GW 8) führt Jung zu einer Erweiterung des Begriffs des Unbewussten bzw. der Archetypen. Ins Zentrum des Interesses rückt nun die anordnende Kraft der Archetypen bzw. des > Selbst als dem Archetyp der Archetypen: "Als ein numinoser Faktor bestimmt der Archetypus die Art und den Ablauf der Gestaltung mit einem anscheinenden Vorwissen oder im apriorischen Besitz des Zieles, welches durch den Zentrierungsvorgang umschrieben wird." (Jung, GW 8, § 411) Allgemeiner gesagt steht dahinter die Vorstellung eines allgemein und über die Einzelpsyche hinaus wirksamen bewusstseinsfähigen Geist-Faktors (> Geist > Logos-Prinzip). Dieser allgemeine Geist-Faktor geht auch über eine triebbestimmte Vorstellung von instinkthaften Abläufen weit hinaus, vertieft die Annahme der > Polarität von Trieb und Geist als Prinzip des Lebens überhaupt. Auch neuere Erkenntnisse der Physik in Form der Relativierung der Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität bestätigen Jung in der Annahme der Wirksamkeit psychoider Kräfte und einer an sich unerkennbar wirkenden Welt, in der "Raum und Zeit ihren Sinn verlieren, beziehungsweise relativ geworden sind." (vgl. Jung, GW 8, § 957) Daraus entwickelt sich - in Anlehnung an die > Alchemie - die Vorstellung, dass der Hintergrund der empirischen Welt (> Wissenschaftstheorie) ein > Unus mundus, eine > Einheitswirklichkeit (> Wissen, autonomes) sei.

Literatur: Ellenberger, H. F. (1985]]): Die Entdeckung des unbewussten; Frey-Rohn, L. (1969]]): Von Freud zu Jung; Meier, C. A. (1968]]): Die Empirie des Unbewussten.

Autor: D. Knoll