Körper

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Keyword: Körper

Links: > Archetyp > Bios-Prinzip > Körperbild > Körpersprache > Körperpsychotherapie > Leib-Psychotherapie > Prozessorientierte Psychologie > Psychosomatik > Unus mundus

Definition: Körper und > Seele stellen im Denken und Empfinden der Moderne eine nicht reduzierbare Zweiheit dar. In der subjektiven, präreflexiven Erfahrung des Kindes jedoch bilden Körper und Seele eine Einheit von Erleben und Handeln. Die Körper-Seele-Einheit, von Graf Dürkheim als "Leib" bezeichnet, ist Ausgangspunkt der heutigen körper-psychotherapeutischen Richtungen aber auch der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) seit C. G. Jungs frühesten Forschungen (> Assoziationsexperiment > Komplex). 1912 in „Wandlungen und Symbole der Libido“ (vgl. Jung, GW 5) stellt Jung - in bewusster Gegenüberstellung zu S. Freuds Triebmodell - ein energetisches (> Energie > Libido) psycho-somatisches (> Psychosomatik) entwicklungspsychologisches (> Entwicklungspsychologie) Modell vor. Er nennt es "das primäre Modell der rhythmischen, Befriedigung erzeugenden und lustvollen Tätigkeit" (vgl. Jung, GW 5, § 206) und hebt darin die schöpferischen Momente des Spielerischen (> Spiel) und der rhythmischen Betätigung hervor. In lustvoller körperlicher Tätigkeit wird die > Libido in stets höher organisierte Formen vom Saugen, Strampeln etc. bis hin zu Musik, Tanz, > Sexualität und schließlich Arbeit (> Fantasiedenken/gerichtetes Denken), d. h. auch geistige Arbeit des Vorstellens (> Fantasie), Denkens (> Denken/Denkfunktion) Imaginierens (> Imaginieren) etc. übergeleitet. Die Grundlage von Ich-Bildung und psychischer Entwicklung ist von den Erfahrungen und Funktionen des Körpers nicht zu trennen. (> Ich/Ich-Bewusstsein > Ich-Selbst-Achse > Zentroversion)

Information: Für Jung, dann auch E. Neumann und M. Fordham besteht anfänglich eine Einheit zwischen sensumotorischer Aktivität und archetypischem Muster. Die psychische und geistige Tätigkeit des Neugeborenen manifestiert sich zunächst ganz im Bereich des Körperselbst (vgl. Neumann, 1949a, 1963). Während der erwachsene Mensch oft aufwendige und schmerzhafte Prozesse durchlaufen muss, um die funktionelle Wahrnehmungs- und seelische Repräsentationseinheit von Körper und Psyche wiederherzustellen, ist der ursprüngliche Zustand der frühen Kindheit (> Kindheit/Kindheitsphasen), das archetypische "primäre Selbst" (vgl. Fordham, 1976) eine einheitliche Wirklichkeit. In Jungs früher Auffassung der archetypischen Urbilder (> Bild > Instinkt) als "Selbstabbildungen der Instinkte" (vgl. Jung, GW 8, § 277) ist diese körperseelische Entwicklungsganzheit ersichtlich. Sie wird in seiner Spätauffassung von Archetypen (> Archetyp) als so genannten psychoiden Prinzipien (> Unbewusstes, psychoides), die Triebwesen und > Geist in einer psychische Energie erzeugenden Gegensatzspannung (> Gegensatz > Polarität) zusammenbringen und zugleich transzendieren, vertieft. Körper-Selbst, Körper-Geist, Körper-Psyche erscheinen zwar in getrennten Wahrnehmungsmodalitäten: einerseits exterozeptiv (von außen kommend) in den sensorischen Wahrnehmungen des Körpergeschehens; andererseits interozeptiv (von innen kommen) in der intuitiven Wahrnehmung spontaner Fantasie- und Denkprozesse, aber diese Spaltung in Antinomien ist ein Kunstgriff des Bewusstseins (> Bewusstsein). Psyche kann als die untastbare, intuitive (> Empfinden/Empfindungsfunktion > Intuition/Intuitive Funktion), intellektuelle und emotionale Dimension (> Emotion) des Körpers bezeichnet werden, oder, umgekehrt, der Körper als der sichtbaren Ausdruck von Psyche, Geist und > Selbst. Das Körpergeschehen mit seinen energetischen Prozessen bietet zugleich einen sehr wichtigen therapeutischen Zugang zur > Psychogenese und > Psychodynamik von Patienten (> Körperpsychotherapie).

Jung weist immer wieder darauf hin, dass die Archetypen durch konkrete Erfahrungen an den Bezugspersonen der frühen Kindheit konstelliert werden. Heute deuten Erfahrungen und Forschungen übereinstimmend darauf hin, dass diese frühen, archetypisch determinierten Erfahrungen in und an dem Körper festgeschrieben sind. Im Körper des erwachsenen Menschen finden Geschichte und Charakter des Einzelnen ihren konkret sichtbaren und gleichermaßen symbolischen Niederschlag (> Körpersprache). Der sichtbare und erlebbare Körper ist einer der wichtigsten Zugangswege zum Unbewussten des Menschen: zu seiner Werdungsgeschichte, seiner psychischen Wesensart und Dynamik und seinem Charakter, auch zu seinem ungelebten (und deswegen für Jung potenziell neurotisierenden) schöpferischen Potenzial. Der beseelte Körper in seiner sensumotorischen Gestalt, Beweglichkeit und Ausdruckskraft ist neben dem > Traum und dem > Komplex ein dritter "Königsweg" zum Unbewussten: "Ist man noch gefangen von der alten Idee des Gegensatzes von Geist und Materie, so bedeutet dieser Zustand eine Zerspaltung, ja einen unerträglichen Widerspruch. Kann man sich dagegen mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist, dass die beiden nicht zwei, sondern eins sind, so versteht man auch, wie das Streben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe durch das Unbewusste zum Körper führt." (Jung, GW 10, § 195).

Literatur: Heisterkamp, G. (1993): Heilsame Berührungen; Heisterkamp, G. (2002): Basales Verstehen; Mindell, A. (1993):Traumkörper-Arbeit oder der Lauf des Flusses; Schellenbaum, P. (1994): Nimm deine Couch und geh; Ware, R. C. (1984): C. G. Jung und der Körper: Vernachlässigte Möglichkeiten der Therapie?

Autor: R. Ware