Mythodrama

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Keyword: Mythodrama

Links: > A-H-System > Imagination > Mythos > Psychodrama > Spiel > Symbol

Definition: Beim Mythodrama (griech. mythos: Erzählung; griech. drama: Handlung, Geschehen, Schauspiel) handelt es sich um ein Gruppentherapieverfahren und eine Konfliktmoderationstechnik, die von A. Guggenbühl entwickelt worden ist. (vgl. Guggenbühl, 1999) Es basiert auf den Konzepten des Psychodramas (> Psychodrama) von J. L. Moreno und der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie). Im Mythodrama wird die Idee umgesetzt, dass das Verhalten des Menschen auch von kollektiven Prozessen (> Archetyp > Bewusstsein, kollektives > Kollektiv > Unbewusstes, kollektives) gesteuert wird und nicht nur das Resultat seiner persönlichen Biografie, seines Willens oder Ausdruck seiner > Persönlichkeit ist.

Information: Wenn mit Gruppen gearbeitet wird, sei es in der > Gruppenpsychotherapie, Konfliktmoderation (> Konflikt) oder Teamarbeit, dann müssen methodisch die kollektiven Dynamiken berücksichtigt werden. Sie manifestieren sich vor allem in den Gruppen, mit denen Menschen sich identifizieren (> Identifikation). Die Mitglieder solcher Gruppen verbindet eine seelische Tiefenschicht, die > Kollektivpsyche, das kollektive Unbewusste. Was der Einzelne wahrnimmt und empfindet ist darum oft auch Ausdruck eines kollektiven Prozesses. (> Individualität) und es bedarf spezieller Metaphern (> Metapher) und Begriffe, um diese Gruppenmechanismen zu erkennen und auszudrücken. Die Aussagen und Handlungen von Einzelpersonen werden oft erst nach dem Einbezug der kollektiven Tiefenprozesse verständlich. Komplexe (> Komplex) oder Archetypen (> Archetyp) beherrschen nicht nur die psychologische Einstellung des Einzelnen, sondern können auch eine Gruppe erfassen. Der Einzelne schließt sich in der Folge dem psychischen Komplex an, der die Gruppe dominiert. Diese Komplexe oder Archetypen drücken sich durch ihre entsprechenden Mythen (> Mythos) aus. Diese Mythen sind Geschichten, die von der archetypischen Konstellation der Gruppe produziert oder ausgewählt werden und für die Gruppenmitglieder eine erhöhte Plausibilität haben. Sie werden zitiert, wenn die Gruppe oder das Kollektiv neue Herausforderungen bewältigen muss, bedroht wird oder ein Trauma zu verarbeiten hat. Im Kollektiv haben sie die Funktion von axiomatischen Erklärungen, d. h., sie werden von den Gruppenmitgliedern als wertvoller und wichtiger Grundsatz nicht mehr hinterfragt, sondern allgemein akzeptiert und genügen ihnen deshalb als Begründung für eine Handlung oder Problem. Hinter vielen allgemein anerkannten Schlagwörtern verstecken sich solche Mythen, und damit eine bestimmte archetypische Einstellung, die an mythische Geschichten geknüpft werden kann und die archetypische Struktur des Kollektivs widerspiegelt. (vgl. Hübner, Singer, 2000) Eine Gruppe glaubt durch das Axiom Kommunikation ihre Probleme zu lösen; dahinter könnte sich der Hermes-Aphrodite-Mythos (> Hermes-Mercurius > Hermaphrodit) verbergen. Eine zweite Gruppe löst ihre Konflikte über Wissen, verborgen sind Apollo und Logos (> Logos-Prinzip) ; eine dritte glaubt an > Gewalt als ihren Weg, hörbar und erlebbar wird bei dieser Gruppe die Sprache von Ares (> Heros-Prinzip).

Das Mythodrama zeichnet sich durch eine Methodik aus, die der archetypischen seelischen Tiefenstruktur gerecht wird. Im Gegensatz zum > Psychodrama wird nicht mit individuellen Situationen gearbeitet, sondern mit dem zentralen Mythos der Gruppe. Der Mythos, der die Gruppe zusammenhält, steht im Zentrum der Arbeit. Eine mythodramatische Sitzung zeichnet sich durch einen genauen Ablauf aus: Zuerst müssen die Gruppenteilnehmer ihr persönliches Problem oder das der Gruppe definieren. Es gilt individuell oder in der Gruppe festzuhalten, was man bearbeiten möchte. In der zweiten Phase organisiert der Gruppenleiter eine Einstimmung. Spielerisch, (> Spielen) über > Musik, eine Aufgabe oder Bewegungsübung (> Körper) wird der Gruppe geholfen, sich als Gemeinschaft zu erleben. Als Nächstes erzählt der Gruppenleiter eine Geschichte. Diese wird gemäß dem vorher diagnostizierten Mythos ausgewählt. Die Auswahl des Mythos erfolgt intuitiv (> Intuition/Intuitive Funktion), über Vorgespräche oder spezielle Fragebögen. Die Geschichte wird frei erzählt, damit sich der Inhalt je Gruppenstimmung verändert kann. (> Beziehung, therapeutische > Beziehungsquaternio > Prozess, dialektischer) Sie dient als Medium des Kontaktes, nicht als Lehrgeschichte, und sie wird durch "mental Movers" angereichert. Es handelt sich dabei um kleine unwahrscheinliche, bizarre oder unlogische Details, die wie selbstverständlich in die Geschichte eingebaut werden und als Irritationen wirken sollen. Die Geschichte wird nicht zu Ende erzählt, die Gruppenteilnehmer werden in der folgenden Phase aufgefordert, sich den Schluss selbst zu imaginieren (> Imagination). Dieser Imaginationsphase folgt die Darstellungs- oder Bearbeitungsphase, die je nach Aufgabe oder Herausforderungen unterschiedlich gestaltet ist. Teams oder Familien (> Familie) werden in der Regel aufgefordert, sich zusammen einen Schluss auszudenken und ihn anschließend spielerisch oder auch in Bildern darzustellen. In der letzten Phase des Mythodramas werden diese Lösungen symbolisch (> Symbol) gedeutet (> Deutung) und auf die Ausgangsfragestellung bezogen. Das Problem oder die Fragestellung, die am Anfang der Sitzung von der Gruppe oder von den Einzelnen festgehalten worden ist, wird jetzt mithilfe des durch den Gruppenprozess produzierten Materials neu gesichtet. Dank der spontanen Dramen und Zeichnungen (> Malen aus dem Unbewussten) können eigene Ressourcen entdeckt werden. Es gelingt den Gruppenmitgliedern vielleicht auch, sich durch das Spiel mit dem Mythos der Gruppe kreativ (> Kreativität) und kritisch auseinander zusetzen. Wenn das Mythodrama als Konfliktmoderationstechnik eingesetzt wird, dann sollte am Ende der Sitzung eine konkrete Maßnahme zur Veränderung beschlossen werden. Diese kann auf individueller Ebene erfolgen oder aber durch die gesamte Gruppe initiiert werden und möglichst von Außenpersonen erkannt werden. Das Mythodrama wird in England von R. Olivier als Methode der Organisationsentwicklung und in Führungsseminaren verwendet. Sein Ansatz stellt die Wahl und Inszenierung (> Inszenieren/Inszenierung) von selbst gewählten Rollen aus einem Drama von Shakespeare (> Dichtung) in den Vordergrund. Durch das anschließend geleitete Spiel werden neue innere Ressourcen entdeckt und Handlungsperspektiven für die eigene Arbeit gewonnen.

Literatur: Guggenbühl, A. (1998): Männer, Mächte, Mythen; Guggenbühl, A. (1999): Mythodrama.

Autor: A. Guggenbühl