Neurose

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Keyword: Neurose

Links: > Diagnose > Individuation > Komplex > Konflikt > Neurose, ekklesiogene > OPD > Psychoanalyse > Psychodynamik > Psychogenese > Psychotherapie, analytische > Psychose > Religion > Selbstregulation > Sinn

Definition: Neurose (gr. neuron: Faser, Sehne, Nerv, auch Psychoneurose, ist ein (veralteter) Sammelbegriff für eine Vielzahl innerlich widersprüchlicher Erlebnisreaktionen oder psychischer Störungen mit unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ursachen, die zu Leiden der Persönlichkeit und zu unterschiedlichen Symptomen führen. Während man im 18. Jh. noch angenommen hat, diese Symptome hätten neurale (nervliche) Ursachen, vermutet man seit dem 19. Jh., dass diese Störungen psychisch bzw. psychoneuronal verursacht sind.

Der Begründer der modernen Neurosenlehre ist S. Freud (> Psychoanalyse). Zentral für die Neurosentheorie bei Freud ist der Begriff des > Konfliktes und der > Abwehr (> Abwehrmechanismen), die sich auf den Umgang des Ich mit unbewussten Inhalten beziehen. Das Ich soll zwischen den libidinösen, sexuell/aggressiven Triebwünschen des > Es, den Ansprüchen des > Über-Ich und > Ideal-Ich und den sozialen Anforderungen (> Gesellschaft > Kollektiv) vermitteln, was ihm nur partiell gelingt, sodass es zu Kompromissbildungen, von denen eine Form die Neurose ist, kommt. Eine herausragende Rolle in der Neurosenentstehung spielt dabei das konflikthafte ödipale Geschehen oder der > Ödipuskomplex.

Information: C. G. Jung verzichtet auf eine systematische Darstellung einer Neurosentheorie speziell aus der Sicht der Analytischen Psychologie. In weiten Bereichen schließt er sich dem allgemeinen Neuroseverständnis der Psychoanalyse an, erweitert es aber um folgende Aspekte:

1. die Komplextheorie

2. die archetypische Dimension als Hintergrund psychischer Entwicklung und Krankheit;

3. den finalen, schöpferischen Sinn der Neurose und ihrer Symptome (> Finalität) ;

4. die Perspektive der > Selbstregulation;

5. das, am Individuum (> Individualität) orientierte, Verstehen der Entwicklung und Behandlung einer seelischen Störung.

Zum heutigen Verständnis der Entwicklung seelischer Störungen in der Analytischen Psychologie lässt sich zusammenfassen: Seelische Störungen entstehen durch:

1. ungelöste Konflikte zwischen den verschiedenen bewussten und unbewussten Aspekten des gesamten psychosomatischen Organismus, die aus verschiedenen Gründen dissoziiert (> Dissoziation) sind, aber im Sinne der Gegensatzspannung (> Gegensatz) und polaren Struktur der Psyche (> Polarität) zusammengehören und als solche einen gemeinsamen Ausdruck im Leben finden müssen;

2. ungelöste Konflikte zwischen eigenen Bedürfnissen und denen der Um- und Mitwelt, wozu auch Konflikte als Ausdruck einer unbewussten Identifizierung mit pathogenen familiären und gesellschaftlichen Normen und Werten gehören;

3. ungelöste pathogene Komplexbildungen, die sich als Hemmungen und inadäquate Erlebens- und Verhaltensweisen zeigen, die aber oft auch ein Entwicklungspotenzial in sich tragen. Konflikte und Komplexbildungen haben gemeinsam, dass sie durch die mit ihnen verbundenen Abwehrmechanismen psychische Energie (> Libido) binden und die natürliche> Selbstregulation hemmen;

4. eine mangelnde Autonomie- und Identitätsentwicklung im Sinne der > Individuation;

5. Entwicklungseinseitigkeiten (z. B. Persona-Identifizierung, einseitige intro- oder extravertierte Einstellung (> Introversion > Extraversion), einseitige Orientierungsfunktionen und Entwicklungsstillstände

6. Defizite in der Beachtung einer gesunden ganzheitlichen Lebensführung und den damit verbundenen sozialen und alltäglichen Notwendigkeiten;

7. Vermeidung der Auseinandersetzung mit den existenziellen Grundfragen des Menschseins, insbesondere nach Beziehung, dem Sinn und den Fragen des Religiösen.

In der therapeutischen Behandlung von Neurosen ist C. G. Jung das Erfassen der Gesamtheit der Persönlichkeit wichtiger als ihre Zuordnung zu einer bestimmten theoretischen Diagnose,  Psychogenese und Psychodynamik. Er orientiert sich vor allem an der Selbstregulation und den anstehenden finalen Individuationstendenzen eines Menschen. "Es ist eine Sache zum Verzweifeln, dass es in der wirklichen Psychologie keine allgemeingültigen Rezepte und Normen gibt. Es gibt nur individuelle Fälle mit den allerverschiedensten Bedürfnissen und Ansprüchen, dermaßen verschieden, dass man im Grunde nie vorher wissen kann, welchen Weg ein Fall einschlagen wird" (Jung, GW 16, § 163]]) Theoretische Vorstellungen sollten deshalb nur als vorläufige Hypothesen aufgefasst und immer wieder auf ihre Angemessenheit überprüft werden: "Der Patient ist nämlich dazu da, um behandelt zu werden, und nicht, um eine Theorie zu verifizieren. Es gibt keine Theorie im weiten Felde der praktischen Psychologie, die nicht gegebenenfalls grundfalsch sein kann." (Jung, GW 16, § 237]]) 

In der Neurose sieht Jung nicht eine Störung, die schnell beseitigt werden sollte, sondern auch einen final-prospektiven Sinn, ein verborgenes kostbares Stück Seele, ein Signal des > Selbst zur Weiterentwicklung. "Eine Neurose ist dann wirklich "erledigt", wenn sie das falsch eingestellte Ich erledigt hat. Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt uns. Der Mensch ist krank, die Krankheit aber ist der Versuch der Natur, ihn zu heilen. Wir können also aus der Krankheit selber sehr viel für unsere Gesundung lernen, und was dem Neurotiker als absolut verwerflich erscheint, darin liegt das wahre Gold, das wir sonst nirgends gefunden haben." (Jung, Jacobi 1971, S. 120) Den tieferen Sinn einer Neurose als Ausdruck einer Individuationstendenz zu verstehen, ist deshalb das zentrale Anliegen in der Analytischen Psychologie. Dieser Sinn kann über die Entwicklung einer schöpferischen Beziehung zum Unbewussten, die Entwicklung einer symbolischen Einstellung (> Einstellung, symbolische) und schließlich über einen neuen Bezug zum Religiösen (> Religion > Spiritualität) gewonnen werden. "Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte … ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“ (Jung, GW 11, § 509)

Literatur: Mentzos, S. (1984): Neurotische Konfliktverarbeitung; Frey-Rohn, L. (1969): Von Freud zu Jung; Kast, V. (1990): Die Dynamik der Symbole.

Autor: D. Knoll