Größenfantasien: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Größenfantasien
Links: > Anthropozentrismus > Ganzheit > Identität, personale > Hybris > Ideal-Ich > Identifikation > Individualpsychologie > Inflation > Minderwertigkeitsgefühl > Narzissmus > Schatten, therapeutischer > Selbst > Selbstwertgefühl
Definition: Größenfantasien sind Fantasien (> Fantasie) von der eigenen Großartigkeit, Besonderheit, Berühmtheit, Attraktivität (> Eros-Prinzip) und > Macht, von besonderen Fähigkeiten, Kenntnissen und Heldentaten (> Heros-Prinzip). Sie können in verschiedenen Phasen des Lebens als Ausdruck der > Freude an und über sich selbst, am eigenen Dasein, an eigenen Fähigkeiten und Begabungen, des Stolzes über gelungene Leistungen und der Vorfreude auf zukünftige Erfolge auftreten („Ich bin doch der Größte!“). Sie haben eine sehr starke, motivierende Kraft zum Guten wie zum Schlechten.
Information: Hinter den meisten herausragenden Leistungen und Errungenschaften wie auch hinter den schlimmsten Verbrechen der Menschheit stehen sicherlich noch größere, meist aber nicht öffentlich zugestandene Größenfantasien. Sie werden in der Regel verborgen gehalten, weil sie von der traditionellen > Moral mit starken Abwertungen belegt werden. Der Betreffende läuft Gefahr, den > Neid anderer Menschen zu erregen und von ihnen als arrogant, überheblich, eitel, geltungssüchtig, stolz, unbescheiden oder gar größenwahnsinnig eingestuft zu werden. “Hochmut kommt vor dem Fall“. Fast alle Religionen (> Religion) sehen in der Egomanie eine Todsünde. Dementsprechend ist selbst die normale, natürliche, manchmal überschießende Freude an sich selbst und den eignen Fähigkeiten sehr oft mit > Scham und Schuld (> Schuldgefühl) besetzt. Obwohl in den tiefenpsychologischen Richtungen ein „gesunder > Narzissmus“ durchaus akzeptiert wird und die Fähigkeit zur Selbstliebe auch als wichtiges Ziel angesehen wird, klingt doch bei dem Thema der Größenfantasien häufig eher das Bedenkliche und Pathologische durch.
Größenfantasien werden in der analytischen Literatur überwiegend als Abwehrmechanismus (> Abwehrmechanismen) verstanden, der eingesetzt wird, wenn der > Ich-Komplex nicht kohärent genug ist (vgl. > De(s)integration) und das > Selbstwertgefühl z. B. durch Abwertung, Nichtbeachtung oder Misserfolg eine Kränkung erfahren hat. Oder sie sind Ausdruck eines „unmodifizierten Größenselbst“ (> Selbstpsychologie), einer > Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls (> Minderwertigkeitsgefühl > Individualpsychologie), einer „infantilen“, „puerilen Haltung“ (> Puer Aeternus/Puella aeterna) oder einer > Hybris, einer > Inflation oder einer Manie. C. G. Jung beschreibt solche problematischen Erscheinungsformen, die durch eine > Identifizierung mit Inhalten aus dem Unbewussten (> Unbewusstes) auftreten können, bereits 1916: „Die Einen bauen damit ein unverkennbares, ja unangenehm gesteigertes Selbstbewusstsein oder Selbstgefühl auf [...] Die anderen werden aber herunter gestimmt, ja erdrückt von den Inhalten des Unbewussten, ihr Selbstgefühl mindert sich. Die ersten übernehmen, im Überschwang des Selbstgefühls, eine Verantwortlichkeit für ihr Unbewusstes, die viel zu weit reicht, über jede wirkliche Möglichkeit hinaus, die letzteren lehnen schließlich jede Verantwortlichkeit für sich ab in der erdrückenden Erkenntnis der Machtlosigkeit des Ich gegenüber dem durch das Unbewusste waltende Schicksal.“ (Jung, GW 7, § 221) Beiden Reaktionsformen ist gemeinsam, dass sie über ihre Grenzen gehen. “Der Eine dehnt sich übermäßig aus, der Andere verkleinert sich übermäßig. Ihre individuellen Grenzen sind irgendwie verwischt.“ (Jung, GW 7, § 225)
Natürlich dürfen die Gefahren der > Inflation und der Größenfantasien nicht übersehen werden, aber die Konsequenz aus solchen Aussagen könnte auch sein, dass Menschen, da sie nicht als „inflationiert“ gelten möchten, ihre individuellen Grenzen, eher nach unten setzen und den „Überschwang“ und die Lebensfreude eher als problematisch ansehen. Mit den positiven Aspekten der Größenfantasien scheint es ähnlich wie mit den positiven „gehobenen“ Emotionen wie > Ekstase > Freude > Glück > Humor und > Leidenschaft zu sein. Sie führen in der Regel ein „Schattendasein“ in der analytischen Literatur und in den Therapien (> Schatten, therapeutischer) mit der Folge, dass sie von den als „unseriös“ eingestuften Richtungen übernommen werden, beispielsweise dem „positiven Denken“.
Gleichzeitig ist relativ deutlich zu sehen, dass mit den Zielen der > Psychoanalyse und der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) nach > Bewusstheit, Reife, > Individuation und > Ganzheit durchaus Größenfantasien und elitäre Vorstellungen verbunden sind, die aber wegen des „Inflationstabus“ nicht zugestanden werden dürfen, was zu einer starken emotionalen Gehemmtheit und Vernünftigkeit der Analytiker im öffentlichen Auftreten und dann zu tatsächlich pathogenen Auswirkungen des ungelebten Narzissmus führen kann.
Deshalb ist es wichtig, Größenfantasien nicht nur als Abwehrmechanismen zu deuten. Sie haben als Ideal- und Zielvorstellungen der eigenen Entwicklung auch eine prospektive Funktion (> Finalität) und können ungelebte Aspekte des > Selbst, Begabungen und Potenziale zum Ausdruck bringen und die Energie für deren Verwirklichung liefern.
Literatur: Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Müller, L. (1996): Trotzdem ist die Welt ein Rosengarten; Müller, L. (2001): Lebe dein Bestes; Schneider, W. (1996): Die Sieger.
Autor: L. Müller