Schatten, therapeutischer

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Keyword: Schatten, therapeutischer

Links: > Abstinenz > Authentizität > Beziehungsquaternio > Beziehung, therapeutische > Empathie > Ethik, therapeutische > Heiler, verwundeter > Pentaolon-Modell > Prozess, dialektischer > Schatten > Set > Setting > Über-Ich-Entwicklung > Widerstand > Wirkfaktoren, psychotherapeutische

Definition: Menschen, die sich in einer besonderen Weise sozial und hilfreich für andere Menschen einsetzen, haben oft ihre ganz besonderen Schwierigkeiten mit ihrem > Schatten. Sie haben oft ein ausgeprägtes]] > [[Ideal-Ich und > [[Über-Ich, wodurch sie sich bemühen, im psychologischen oder moralischen Sinne (> Moral) ideale, "erwachsene" reife, bewusste, individuierte Menschen zu sein, fehlerfrei, makellos, liebevoll, gesund, ohne seelische Störungen und Schwankungen. Sie dürfen alles nicht sein, was kindisch, infantil, unbewusst, neurotisch oder pathologisch erscheinen könnte, und sie dürfen wenig von ihren eigenen narzisstischen Bedürfnissen (> Automorphismus > Narzissmus), ihrer Sehnsucht nach Anerkennung, Bestätigung, Kontakt, Kommunikation, Zuwendung und > Liebe wahrnehmen und natürlch auch auf keinen Fall in der Therapie ausleben.

Information: Durch die starke Identifizierung mit ihrer therapeutischen Funktion, ihrer Therapeutenpersona (> Persona) kann es zu einem Verlust spontaner menschlicher Beziehungsfähigkeit, Authentizität und Natürlichkeit kommen. Eine wirklich dialogische Begegnung (> Beziehungsquaternio > Beziehung, therapeutische) zwischen Therapeut und Patient als fundamentaler psychotherapeutischer Heilfaktor (> Wirkfaktoren) wird dadurch sehr schwer. Aus einer hilfreichen menschlichen Begegnung kann dann ein heimlicher Machtkampf (> Macht > Minderwertigkeitsgefühl) und Missbrauch werden. Der Patient wird zur Bestätigung der narzisstischen Größenvorstellungen des Therapeuten benötigt und muss in Abhängigkeit und Unselbstständigkeit gehalten werden. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass der Therapeut sich auf das Pathologische und Krankhafte des Patienten fixiert, während die gesunden Anteile des Klienten, seine Fortschritte und Begabungen wenig gesehen und gefördert werden. Ertragen Therapeuten ihre eigenen Bedürfnisse und Schattenseiten nicht, besteht die Gefahr, dass sie diese projektiv (> Projektion) über ihre Patienten verarbeiten. Therapeuten entlarven dann die Schattenseiten ihrer Patienten, um zu erleben, doch besser und reifer zu sein als diese.

Die unbewusste Sehnsucht von Therapeuten nach eigener Heilung kann so stark sein, dass sie sich für ihre Patienten aufopfern und bis zur Erschöpfung verausgaben. In der Zuwendung, die sie ihren Klienten schenken, behandeln sie diese so, wie sie selbst behandelt werden möchten. Dabei vermeiden sie zugleich, ihre eigene Individuation und Sinnfindung (> Sinn). Die therapeutische Beziehung wird dann durch das ungelebte Leben des Therapeuten belastet, die Therapie wird zu seinem Ersatzleben, die therapeutische Beziehung zu einer Ersatzbeziehung für den Therapeuten. In ganz destruktiven Fällen kann es der Therapeut nicht ertragen, wenn der Patient Fortschritte macht, sich reifend entwickelt und andere befriedigende Beziehungsformen findet. Er versucht dann möglicherweise heimlich, diese Fortschritte und Beziehungen zu verhindern und den Patienten in weiterer Abhängigkeit zu halten, indem er sie beispielsweise abwertet und pathologisiert.

Aus den hohen Selbstanforderungen des Therapeuten kann sich auch schleichend ein sogenanntes "Burnout"-Syndrom (eng. Burn-out: Ausgebranntsein) entwickeln, das eine starke seelische, geistige und körperliche Erschöpfung mit Demoralisierung und gestörten Sozialbeziehungen bezeichnet.

Erst aus der Einsicht in die eigene Bedürftigkeit und Begrenzheit, dem Zulassen der eigenen Defizite und einem durchschnittlichen gelingenden privaten Leben mit seinen Lebenskrisen (> Krise) können Therapeuten eine heilende > Abstinenz in der therapeutischen Beziehung entwickeln. Heilende Abstinenz ist eine Kunst, ein zuweilen sehr schwieriger Balanceakt zwischen toleranter Nicht-Einmischung und persönlicher, dialogischer Beziehung zum Patienten. Die unpersönliche Abstinenz kann ein heimliches Machtspiel sein, Ausdruck der Angst, sich in der eigenen Menschlichkeit und Schattenhaftigkeit zu zeigen, ein sadistisches Vorenthalten von Informationen, von echter Menschlichkeit. Therapeutische, d. h. heilende Abstinenz ist nicht hauptsächlich eine äußerlich angenommene Haltung, die sich in "streng" einzuhaltenden Regeln oder einem bestimmten > Setting zeigt, sondern vielmehr eine innere Einstellung der Toleranz, Akzeptanz und Liebe, durch die die Freiheit, Selbstbestimmung und Würde der Patienten gewahrt wird.

Schwierig gestaltet sich häufig auch das kollegiale Gespräch zwischen Psychotherapeuten (> Intervision > Supervision). Da die eigenen menschlichen Qualitäten eigentliches Handwerkszeug des Therapeuten sind, muss er befürchten, dass eigene Unbewusstheit den therapeutischen Prozess hemmt. Ein ständiger latenter Selbstzweifel gehört zu den Berufserfordernissen des Psychotherapeuten, kann aber auch zur Berufskrankheit werden. Die Befürchtung, die eigene Unsicherheit, Unfähigkeit und menschlichen Mängel könnten entlarvt werden, kann dazu führen, dass Therapeuten miteinander rivalisierend, abwertend, neidisch und missgünstig oder überhaupt nicht kommunizieren. Es kann die paradoxe Situation (> Paradoxie) entstehen, dass Menschen, die von ihrem Beruf her am besten in der Lage sein sollten, offen, ehrlich und direkt zu kommunizieren, dies in ihrem eigenen kollegialen Umfeld selbst am wenigsten tun, weil der hohe Selbstanspruch und die Therapeuten-Persona dies unmöglich machen.

Literatur: Burisch, M. (1989): Das Burn-out-Syndrom; Guggenbühl-Craig, A. (1978): Macht als Gefahr beim Helfer; Müller, L. (1991): Macht und Ohnmacht des Helfers; W. Schmidbauer, W. (1977]]): Die hilflosen Helfer.

Autor: L. Müller