Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Bewusstseinsentwicklung: Allgemeine Stadien
Links: > Bewusstseinsentwicklung: Mythologische Stadien > Bewusstseinsentwicklung: Kindliche Stadien > Bewusstseinsentwicklung: Weibliche Stadien > Individuation > Transpersonale Psychologie
Definition: Verschiedene Philosophen und Psychologen – z. B. J. Gebser (1949), E. Neumann (1949), W. Obrist (1980) und K. Wilber (1984) – haben versucht, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Ethnologie, der vergleichenden Religionswissenschaft, der Entwicklungspsychologie, der Psychologie und der Tiefenpsychologie, bestimmte Aspekte des menschlichen Bewusstseins und die Stadien seiner Entwicklung zu beschreiben. Diese Entwicklung lässt sich nicht nur, aufgrund konkreter klinischer Beobachtungen und Forschungen am Menschen, von seiner Geburt bis zu seinem Tode, sondern in gewissem Rahmen auch anhand der Bilder und Symbole der Religionen und der Kulturentwicklung rekonstruieren. Meist geht man heute davon aus, dass sich die großen Stadien der menschlichen Bewusstseinsentwicklung im individuellen Leben wiederholen, d. h. jeder Mensch durchschreitet von seiner Geburt bis zu seiner Reife, in relativ gesetzmäßiger Abfolge, und bis zu bestimmten individuellen Grenzen die gleichen Stufen, die die Menschheit als Ganzes durchschritten hat. Dabei kann man für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur zwar den gegenwärtigen allgemeinen Bewusstseinsstand angeben – wie er sich in der Art der politischen Organisation, dem durchschnittlichen Lebensstil, den geistigen und religiösen Werten spiegelt (vgl. > Bewusstsein, kollektives) dennoch gibt es aber zwischen den einzelnen Individuen einer jeden Gesellschaft eine große Spannbreite.
Information: Für eine grobe Orientierung lassen sich drei Stadien der Bewusstseinsentwicklung unterscheiden. Auf ein relativ unbewusstes, undifferenziertes Stadium (präpersonales Stadium) folgt eine Differenzierung des Bewusstseins in verschiedene Polaritäten (personales Stadium). Im dritten Stadium (integratives, transpersonales Stadium) finden diese Polaritäten schließlich ihre Synthese. Hierbei gilt, dass das nachfolgende Stadium das vorangegangene transzendiert und integriert, was heißt, dass zwar jeweils eine neue weitere Bewusstseinsdimension, ein vertieftes Welt- und Selbstverständnis gewonnen wird, die Zustände und Erfahrungsdimensionen der unteren Stadien aber erhalten und wirksam bleiben (vgl. Wilber, 1984, 1996)
1. Das archaisch-präpersonale Stadium der Bewusstseinsentwicklung (bei E. Neumann als uroborisch, archaisch, pleromatisch-uroborisch, vegetativ-animalisch bezeichnet): Auf dieser Ebene gibt es noch keine deutliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt, Ich und Du, Innen und Außen. Die Dimensionen von Zeit und Raum spielen eine geringe Rolle. Es gibt kein deutlich abgegrenztes Ich-Erleben, vielmehr besteht eine Art vorbewusstes Einheits- und Ganzheitserleben, auch als > Symbiose oder Dualunion (> Urbeziehung) bezeichnet. Auch wenn auf dieser Ebene ein gewisses Bewusstsein (Wachbewusstsein, Körperbewusstsein, Empfindungsbewusstsein, Gefühlsbewusstsein) durchaus vorhanden sein kann, kann über solche Zustände nur wenig ausgesagt werden, da sie präpersonaler und präverbaler Natur sind.
2. Das differenziell-personale Stadium der Bewusstseinsentwicklung.
E. Neumann beschreibt dieses Stadium als das der Systemtrennung oder > Differenzierung und > Zentroversion, d. h. der Bildung des Ich-Zentrums und der > Ich-Selbst-Achse: Das Hauptsymbol dieses Stadium ist der Heldenkampf > (Weltelterntrennung/Trennung der Ureltern > Drachenkampf > Heldenmythos > Heros-Prinzip) mit dem Ziel, aus der archaischen, präpersonalen Ursprungs-Einheit und Ganzheit ein solar-rationales Ich zu entwickeln.
Es lassen sich drei Unterstadien deutlicher voneinander abgrenzen: das magische, das mythische und das rationale Stadium. Im alltäglichen Leben und in der Bewusstseinsentwicklung treten diese Bewusstseinszustände häufig vielfältig wechselnd und auch gleichzeitig nebeneinander auf.
Auf der magischen Bewusstseinsebene beginnen die ersten deutlichen, polarisierenden Unterscheidungen, z. B. zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt. Allerdings wird diese Unterscheidung durch zahlreiche Überlagerungen erschwert, durch die das Erleben der Innen- und Außenwelt immer wieder miteinander verschmelzen. Zum einen gelingt es dem magisch erlebenden Menschen noch nicht, bestimmte Seiten seines Wesens als zu sich gehörig zu erkennen. Diese (noch) nicht integrierten oder abgespaltenen Seiten erscheinen ihm als Wesenheiten, Dämonen oder > Geister, die sich seiner bemächtigen. Zum anderen aber erlebt er bestimmte Vorgänge seiner Umwelt nicht als von ihm unabhängig und autonom, sondern als auf ihn bezogen. Er verfällt in einen „egozentrischen“ Standpunkt. Die > Psychoanalyse spricht hierbei von > Narzissmus und Omnipotenz-Erleben, E. Neumann von Anthropozentrik, um diese Einstellung des Bewusstseins nicht mit dem negativ bewerteten Begriff des Egoismus zu koppeln (vgl. auch > Automorphismus). Es lässt sich leicht zeigen, dass überall dort, wo unbekannte, unverständliche oder auch besonders belastende Situationen auftreten, wo > Komplexe berührt werden, das Ich sehr schnell auf magische Bewältigungsstrategien zurückgreift (> Magie > Regression). Nur in ruhigen, entspannten und klaren Momenten ist das Ich rational, „vernünftig“ und „reif“.
Der Differenzierungsprozess des Bewusstseins führt dann auf die mythische Stufe (> Mythos): Der Mensch erfährt zunehmend seine begrenzte Macht und seine Hilflosigkeit, muss seine Omnipotenz-Fantasien zurücknehmen, entdeckt aber auch neue selbstgestalterische Fähigkeiten. Er beginnt Sprache und Zeitgefühl zu entwickeln und sich in differenzierter Weise Vorstellungen und Gedanken über den Ursprung der Dinge, des Universums, des Menschen und der Tiere, über die Naturvorgänge, seinen Körper, die Nahrung, die Sexualität, über Mann und Frau und die Bedeutung seines Lebens und Sterbens zu machen. Er projiziert noch vieles aus seiner eigenen Innenwelt auf die Außenwelt, aber er erkennt zunehmend die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Vorgänge, sowohl in ihm, als auch in der Außenwelt. Der mythische Mensch ist nicht mehr überwiegend egozentrisch, sondern soziozentrisch orientiert, d. h. seine Gruppe und das eigene Gesellschafts- und Glaubenssystem, mit den entsprechenden Führungspersönlichkeiten, stehen im Mittelpunkt. Er identifiziert sich mit ihnen und den kollektiven Werten (> Bewusstsein, kollektives). Gruppenfremde Menschen werden als bedrohlich und feindselig empfunden.
Das Stadium des rationalen Bewusstseins, - E. Neumann spricht von patriarchalem oder solar-rationalem Bewusstsein (> Bewusstsein, patriarchales), spiegelt sich im Beginn der abendländischen Philosophie und der patriarchalen Kultur wider und steht zunächst unter der Symbolik des > Heldenmythos (> Heros-Prinzip). Der Mensch und sein Ich-Bewusstsein versuchen sich immer mehr aus der Abhängigkeit von den äußeren Naturmächten und den inneren Kräften der Triebe und Affekte (> Affekt) zu lösen. Es kommt zu einer zunehmenden Konstanz und Stabilität des Ich-Bewusstseins (> Ich-Bewusstsein > Objektkonstanz) ; damit verbunden ist eine vermehrte Fähigkeit zur Weltbemächtigung. Das Ich-Bewusstsein orientiert sich zunehmend am > Logos-Prinzip.
Es bedeutet einen immensen Fortschritt für die Menschheit, sich aus dem magischen und mythischen Denken mit all seinen Vorurteilen, der Angst und dem Zwang zu befreien und sich an den Prinzipien der Vernunft, Logik und der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit zu orientieren. Erst die Fähigkeit, einen relativ unpersönlichen, unparteiischen, auch über eigene Gruppengrenzen hinweg reichenden Standpunkt einnehmen zu können, ermöglichte letztlich etwa die Konstituierung der Menschenrechte, damit auch die Demokratie und die freie Entwicklung der individuellen > Persönlichkeit (> Individuum).
Die Prozesse der Bewusstseinsbildung, die notwendigerweise mit einer Unterscheidung, Polarisierung, Abwehr der unbewussten, emotionalen und transpersonalen Komponenten (> Abwehr > Abwehrmechanismen > Ent-Emotionalisierung > Rationalisierung > Personalisierung, sekundäre) einhergehen, haben aber in diesem Stadium eine starke Neigung, sich zu verselbstständigen und zu verabsolutieren (> Bewusstsein, patriarchales). Dadurch entsteht im Einzelnen Menschen wie auch im > Kollektiv ein Zustand von Einseitigkeit, Starre, Zwang, eine Entfremdung vom Körper und vom Unbewussten, begleitet vom Zerfall des gemeinschaftlichen und kulturellen Wertekanons und einem regressiven Unbewusst-Werden des Einzelnen, einschließlich einer Tendenz zur Vermassung.
3. Integral-transpersonales Stadium
Wird der Einseitigkeits- und Abwehrcharakter des rationalen Stadiums aber progressiv und schöpferisch überwunden, entfaltet sich das integral-transpersonale Stadium der Bewusstseinsentwicklung. Jung und Neumann würden das als die eigentliche > Individuation bezeichnen, die im Sinne einer nun neuen > Zentroversion das Ich-Bewusstsein zu einem Selbst-Bewusstsein (> Selbst) erweitert, in der auch die transpersonale Dimension (> Transpersonale Psychologie) und die > Einheitswirklichkeit als tragender und verbindender Hintergrund erfahren werden. Dazu wäre auch ein Zusammenspiel oder die > Synthese des matriarchalen und des patriarchalen Bewusstseins nötig. Wilber unterscheidet im transpersoalen Bereich noch die Stufen psychisch, subtil und kausal und nondual. Die nonduale Entwicklungsstufe löst die Widersprüche zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Erfahrendem, dem Objekt der Erfahrung und dem Vorgang des Erfahrens auf.
Literatur: Gebser, J. (1949): Ursprung und Gegenwart; Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins; Obrist, W. (1980): Die Mutation des Bewusstseins; Wilber, K. (1984): Halbzeit der Evolution.
Autor: L. Müller