Humanistische Psychologie
Keyword: Humanistische Psychologie
Links: > Gesprächspsychotherapie > Gestalttherapie > Psychodrama > Integrative Psychologie/Psychotherapie > Transpersonale Psychologie
Definition: Die Humanistische Psychologie (lat. humanus: irdisch, menschlich, menschenfreundlich, kultiviert), die sich selbst oft als die "Dritte Kraft" neben behavioristischer Psychologie (> Kognitive Psychologie > Verhaltenstherapie > Lernen) und > Psychoanalyse sieht, hat sich aus verschiedenen psychologischen, philosophischen Gedanken und Strömungen des 20. Jh. s entwickelt, zunächst vor dem 2. Weltkrieg in Europa, vor allem im deutschsprachigen Raum, dann nach dem 2. Weltkrieg in den USA, von wo sie auch schließlich als eine Verdichtung vielfältigster psychologischer, philosophischer, religiöser, mystischer Ideen und Praktiken nach Europa zurückkommt. Sie ist heute eine "alternative" Psychologie, die sich sehr stark gegen die etablierte akademische Psychologie und die klassische > Psychoanalyse wendet, zugleich aber auch gegen die gesellschaftliche Entwicklung, die die technologische Zivilisation vor allem in Europa, den USA und Japan genommen hat sowie deren Folgen auf das Leben und Erleben des Individuums. Teilweise ist die Humanistische Psychologie eingebettet in die breitere New Age Bewegung, die sich seit den 80er Jahren aus der Protestbewegung der 60er und 70er Jahre des 20. Jh. s entwickelt hat.
Information: Zugrunde liegt der Humanistischen Psychologie ein Menschenbild, das von idealistischen humanistischen Gedanken - harmonische Entwicklung der jedem Menschen eigenen positiven Anlagen mit dem Ziel der höchsten Entfaltung des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft und Kultur - und von der existenzialistischen Philosophie beeinflusst ist. Der Existenzialismus des 20. Jh. s mit seiner Grundannahme der Einsamkeit des Menschen vor Gott (Kierkegaard) bzw. vor dem Nichts (Sartre u. a.) postuliert, dass die Einsamkeit den Menschen zur Angst führt. Diese wiederum, bewusst ausgehalten, bringt ihn zum Sein, zum Selbst-Sein, zur Freiheit, zur Entschlossenheit (Heidegger). Die Existenzialphilosophie sieht das Subjekt nicht als von der Welt abgetrennt, sondern in ihr und mit ihr seiend. Und sie ist eine anti-rationalistische Philosophie: Nur der ganze Mensch mit seinem gesamten Ahnen, Fühlen und Wollen, all seinen Erfahrungen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen kann das Wesentliche des Lebens und der Welt erschließen. Der Existenzialismus berührt sich im Grunde mit der > Psychoanalyse und beide beeinflussen sich vermutlich wechselseitig.
Neben dem Existenzialismus spielt auch der philosophische Phänomenalismus eine Rolle. Die Gedanken von L. Binswanger und K. Jaspers, W. Reich, E. Fromm aus dem deutschen Sprachraum sind mit wegbereitend für die Humanistische Psychologie gewesen. Mit den europäischen Emigranten sind diese Ideen auch in die psychiatrisch-psychologische Szene in Amerika eingeflossen. U. a. C. Rogers (> Gesprächspsychotherapie), A. Maslow (> Bedürfnishierarchie), R. May und F. Perls (> Gestalttherapie), arbeiten die Gedanken der Humanistischen Psychologie aus und setzen sie in therapeutische Arbeit um. Der pragmatischere und integrative Ansatz der amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten im Gegensatz zu den eher philosophisch orientierten deutschsprachigen Psychiatern und Psychoanalytikern führt rasch dazu, dass sich Elemente der > Psychoanalyse, auch der Vorstellungen Adlers und Jungs, westlicher und östlicher > Philosophie, > Religion, > Mystik, Astrologie und Esoterik (> Hermetik) mischen mit Elementen der Gestaltpsychologie und Gestaltpsychotherapie, der Lewinschen Feldtheorie und der Kybernetik, > Systemtheorie, Ökologie und moderner > Physik. Wesentlich ist, dass der einzelne Mensch mit einem Entwicklungspotenzial gesehen wird und dass er sich dafür entscheiden kann, seine Möglichkeiten in Interaktion mit seiner sozialen und ökologischen Umwelt, zu verwirklichen. Zwar wird anerkannt, dass der Mensch auch biologischen und anderen Einflussfaktoren wie z. B. seiner frühen Entwicklung und Erziehung unterliegt, aber die Humanistische Psychologie konzentriert sich darauf, dass es immer einen Spielraum für Entwicklung und Veränderung gibt, den jeder eigenverantwortlich nutzen kann. Betont werden dabei Vorstellungen und Konzepte wie Selbstverwirklichung (> Individuation), Selbsterkenntnis, Sinnfindung (> Sinn), Sein im Hier und Jetzt, > Authentizität, ganzheitliches Erleben (> Ganzheit), > Liebe. Vor allem in der integrativen Therapie (> Integrative Psychologie/Psychotherapie), der patientenzentrierten > Gesprächspsychotherapie, in der > Gestalttherapie und den vielfältigen Formen der körpertherapeutischen Arbeit (> Körper > Körperpsychotherapie) findet die Humanistische Psychologie heute konkrete Anwendung.
Erstaunlicherweise haben die führenden Vertreter der Humanistischen Psychologie wie Rogers, Maslow und Perls lange Zeit scheinbar nicht oder nur oberflächlich von der Analytischen Psychologie C. G. Jungs (> Analytische Psychologie) C. G. Jungs Kenntnis genommen. So werden einige seiner zentralen Ideen wie z. B. das > Selbst und die > Individuation zwar übernommen, aber es wird nicht auf ihre Herkunft verwiesen. Die Jung-Rezeption verläuft damit in Amerika wie auch in Europa ähnlich: seine Ideen werden zwar aufgenommen, aber manchmal scheinbar noch einmal neu entdeckt. Inzwischen hat sich das geändert. Die neueren Veröffentlichungen der Humanistischen Psychologie und der mit ihr eng verbundenen (> Transpersonale Psychologie) beziehen sich auch auf Jung und anerkennen seine Gedanken und Konzepte über das Unbewusste (> Unbewusstes) im Menschen, die Dynamik psychischer Prozesse, die Individuation, die Natur psychischer Erkrankungen und seine Auffassung von Therapie (> Beziehung, dialektische). Tatsächlich scheint es, außer der Arbeit mit dem > Körper, keine psychologische Auffassung der Humanistischen Psychologie zu geben, die nicht zumindest ansatzweise von Jung vorgedacht und der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) ausgearbeitet worden ist. Die > Analytische Psychologie geht noch über die Humanistische Psychologie hinaus, weil sie dem Religiösen und Transpersonalen eine entscheidende Bedeutung und auch den paranormalen Phänomenen (> Parapsychologie) im Konzept der > Synchronizität beispielsweise Raum gibt.
Literatur: Hutterer, R. (1998): Das Paradigma der Humanistischen Psychologie; Kohlbrunner, J. (1987): Das Buch der Humanistischen Psychologie; Petzold, H. (Hrsg.) (1984): Wege zum Menschen.
Autor: A. Müller