Männliches und Weibliches Prinzip

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Keyword: Männliches und Weibliches Prinzip

Links: > Anima/Animus > Bewusstsein, matriarchales > Bewusstsein, patriarchales > Coniunctio > Geschlechtsidentität > Polarität > Syzygie

Definition: Mit männlichem und weiblichem Prinzip werden hier Prinzipien bezeichnet, die sich auf eines der zentralen Polaritätspaare (> Gegensatz > Polarität) der Menschheit beziehen, die aber symbolisch und nicht konkret, nicht biologisch oder soziologisch zu verstehen sind. Zwar sind in die Beschreibung dieser Prinzipien natürlich in hohem Maße die evolutionären Erfahrungen der Menschheit an männlichen und weiblichen Menschen, Lebewesen und Pflanzen eingeflossen, aber sie gehen doch auch weit darüber hinaus, in dem auch andere Phänomene der Welt, der > Psyche und des Geistes (> Geist) mit einbezogen werden. C. G. Jung und E. Neumann haben deshalb auch verschiedentlich betont, dass das männliche und weibliche Prinzip und die mit ihm verbundenen Archetypen (> Archetyp) nicht in eins gesetzt werden dürfen mit den typischen Eigenschaften eines konkreten Mannes und einer konkreten Frau, sondern dass jeder Mensch ein individuelles Mischungsverhältnis des männlich-weiblichen Prinzips darstellt.

Information: Eine der bekanntesten und am meisten verwendeten symbolischen Gestaltungen des männlich-weiblichen Polaritätspaares ist das chinesische Tai-Chi-Modell, das innerhalb und außerhalb der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) immer wieder verwendet und mit weiteren Analogien und Symbolen angereichert wird: Yang-Yin; dunkel-hell; Nacht-Tag; Mond-Sonne; Erde-Himmel; Höhe-Tiefe; Berg-Tal; Geist-Materie; Feuer-Wasser; aktiv-passiv; kalt-warm; feucht-trocken; bewusst-unbewusst; hoch-tief; nah-fern; BIOS-Logos; Eros-Heros; Mutter-Vater; Sohn-Tochter; aufnehmen-eindringen; empfangen-zeugen; Distanz-Nähe; Aggression-Liebe; Analyse-Synthese; trennen-vereinen; Autonomie-Symbiose; bezogen-unbezogen; Denken-Fühlen; Empfinden-Intuieren; Ganzes und Teil etc. An dieser Auflistung wird schon deutlich, dass es unmöglich ist und zu einer unerträglichen Einschränkung der menschlichen Individualität führen würde, wenn man jeweils den einen Pol nur den Männern und den anderen Pol nur den Frauen zuordnen würde. Immer sind in jedem Menschen beide Pole in ganz individueller Mischung vorhanden.

Ganz wesentlich am Tai-Chi-Modell und auch in der Vorstellung der Analytischen Psychologie ist außerdem, dass diese Polaritätspaare als gleichwertig und sich gegenseitig notwendig ergänzend angesehen werden, das jeder Pol positive wie negative Aspekte hat, jeder den Keim des anderen in sich trägt und - wenn er seine größte Entfaltung und Ausdehnung erreicht hat, gesetzmäßig in sein Gegenteil umschlägt (> Enantiodromie). Nur durch diese energetische Spannung zwischen den Polen und deren fortwährenden Wechseln ist Existenz, Leben und Bewusstsein möglich. Das Ineinanderfallen der Polaritäten, das sich gegenseitig Aufheben, das zwar in den Sehnsüchten der Menschen als > Coniunctio, > Hierosgamos oder im Nirvana (> Buddhismus) angestrebt wird, wäre gleichzusetzen mit Nicht-Sein, Tod (> Thanatos), Unbewusstheit.

In anderen mythologischen Darstellungen wird oft von einem ungeschiedenen Anfangszustand (> Einheitswirklichkeit > Hermaphrodit > Uroboros), in dem das Männliche und das Weibliche noch eng miteinander verbunden sind oder von einem paradiesischen Urzustand der Einheit ausgegangen. Die beiden Prinzipien werden dann im Laufe der Bewusstseins- und Ich-Entwicklung getrennt. d. h. bewusst (> Bewusstseinsentwicklung > Weltelterntrennung/Trennung der Ureltern, > Bewusstsein, matriarchales > Bewusstsein, patriarchales, "Sündenfall“). Bewusstwerdung und > Individuation erfordern Polarisierung und Trennung.

In verschiedenen Modellen der Analytischen Psychologie werden die Ur-Archetypen der großen Mutter (> Mutterarchetyp > Mutter, Große) und des großen Vaters (> Vaterarchetyp > Vater, Großer), die Ureltern (> Eltern) noch weiter differenziert. T. Wolff unterscheidet als zum Weiblichen Prinzip gehörende Aspekte: 1. die Mutter - zugeordnet z. B. Demeter, bemutternde, näher ende Komponente; 2. die Geliebte oder Hetäre - z. B. verkörpert in Aphrodite, mit der Gefahr der Fixierung in der puella aeterna (> Puer aeternus) ; 3. die autonome Amazone (> Autonomie) und 4. die Mediale, die, wenn nicht eigenständig, sich als femme inspiratrice auf den Mann bezieht. (vgl. Wolff, 1956).

E.C. Whitmont stellt dem gegenüber als zum Männlichen gehörend: 1. Vater - Gott, Führer, König oder Tyrann, Beschützer; 2. Sohn - der > puer aeternus; 3. Held - Kämpfer, Sportler, Soldat, Geschäftsmann etc. (> Heldenmythos) ; 4. Gelehrter -Lehrer oder Philosoph. (vgl. Whitmont, 1969) E. Jung hat in ihren früheren Überlegungen zum Animus als Männliches Prinzip unterschieden: Kraft, Tat, Wort und Geist. Im > Pentaolon-System werden dem Logos-Prinzip das BIOS-Prinzip und das Heros-Prinzip dem Eros-Prinzip gegenübergestellt.

Das Problem der Beschreibung eines männlich-weiblichen Prinzips ist seine Übertragung auf den konkreten einzelnen Menschen. Einerseits sind diese Zuordnungen auch aus der Summe der Erfahrungen mit Mann und Frau hervorgegangen. Deshalb lassen sich einige der Eigenschaften durchaus auch heute unter biologischem und evolutionärem Gesichtspunkt (> Biologie > Geschlecht) als reale Unterschiede zwischen Mann und Frau vermuten: z. B. unterschiedliche Ausprägungen in den Bereichen > Aggression und Bezogenheit, Rationalität und Emotionalität, Aktion und Kommunikation usw. Andererseits wird bei einer solchen durchschnittlichen Betrachtungsweise der einzelne Mensch in seiner individuellen mann-weiblichen Kombination (> Individualität) oft unter Druck gesetzt, solchen Durchschnittserfahrungswerten zu entsprechen. Dieses Dilemma hat C. G. Jung mit seinem Konzept von > Anima/Animus zu überwinden versucht, wobei es ihm allerdings oft nicht gelungen ist, sich von Klischeevorstellungen zu lösen. Jungs Sichtweisen des männlich-weiblichen Prinzips sind natürlich zeitgebunden - wie könnte es auch anders sein? - und durch individuelle Erfahrungen und von einem männlich-patriarchalen]] > Bewusstsein (> Bewusstsein, patriarchales) geprägt. Sie unterscheiden auch nicht deutlich genug zwischen dem, was heute als Sex und Gender (> Geschlecht > Geschlechtsidentität) getrennt wird. Besonders kritisiert wird seine Gleichsetzung des weiblichen Prinzips mit dem Unbewussten (> Unbewusstes) und des männlichen Prinzips mit dem Bewusstsein. Jung hat damit nicht beabsichtigt zu sagen, dass Frauen kein Bewusstsein hätten, sondern auszudrücken versucht, dass das Unbewusste weibliche Qualität hätte und dass das weibliche Bewusstsein dem Unbewussten und seinen ganzheitlichen Selbstregulationen näher stände als das männliche (und umgekehrt).

Es steht wohl auch außer Frage, dass das Unbewusste für Jung eine außerordentlich hohe Bedeutung hat und er in der maßlosen Überschätzung des modernen Bewusstseins, das sich unabhängig vom Unbewussten wähnt, eine der großen Krisen der Moderne sieht. Dennoch aber hat eine solche Beziehungssetzung zwischen dem weiblichem Prinzip und dem Unbewussten in einer männlich- und bewusstseinsorientierten Kultur für viele einen abwertenden Beigeschmack. Unter der modernen Perspektive allerdings könnte man in einer solchen Zuschreibung eher eine Aufwertung des weiblichen Prinzips gegenüber dem männlichen Prinzip erblicken.

Insgesamt lässt sich - bei aller notwendigen Kritik - sagen, dass Jung und die Analytische Psychologie in vielerlei Hinsicht Wegbereiter für eine > Integration des männlich-weiblichen Prinzips im Einzelnen wie in der Gesellschaft gewesen sind, deren Ziel nicht in einer Verfestigung, sondern der Auflösung von pauschalen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen und der Ermutigung liegt, die eigene individuelle männlich-weibliche > Ganzheit zu leben.

Literatur: Barz, H. (1984): Männersache; Colegrave, (1980): Yin und Yang; Whitmont, E. (1989): Die Rückkehr der Göttin; Singer, J. (1981): Nur Frau - nur Mann?

Autor: A. Müller