Archetyp
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Definition: Mit dem Begriff des Archetyps versucht C. G. Jung relativ universale, allgemein-menschliche, inhaltlich aber nicht ganz genau festgelegte Dispositionen, Möglichkeitenm Muster und Potenziale des Funktionierens, Erlebens und Verhaltens zu bezeichnen. Es sind Muster, die der spezifischen Eigenart und den öko-bio-psycho-sozio-kulturen Aspekten des Menschen und seiner Mit- und Umwelt-Beziehungen entsprechen. Arche (griech.: Ursprung, Wesen, Ausgangspunkt für die Erkenntnis) wurde von Aristoteles definiert als „das erste, von dem etwas ist, wird oder erkannt wird“. Typ (griech. typos: Gepräge der Münzen, der Schlag und das dadurch Erzeugte, die Gestalt, die Form, das Muster, das Vorbild) bezeichnet die, einer Gruppe von Personen, Situationen oder Dingen, gemeinsame Grundform oder Urgestalt, auch das prägnante oder vorbildliche Muster, das den Charakter oder die Gestalt einer solchen Gruppe an sich darstellt.
Information: Die Archetypenlehre bildet ein wesentliches Element der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) und des von C. G. Jung entworfenen Menschenbildes. Jung hat den Begriff des Archetypus dem Corpus Hermeticum entnommen, einer Sammlung von metaphysischen Abhandlungen und Dialogen, die zwischen der Mitte des 1. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. verfasst worden sein sollen (> Hermetik), sowie der Schrift des Dionysius Areopagita de divinis nominibus (vgl. Jacoby, 1957). Vorläufer und Bezüge finden sich auch beispielsweise in Platons Ideenlehre, den idea principales des Hl. Augustinus, Kants Erkenntnistheorie (> Erkenntnistheorie) und in Schopenhauers Philosophie. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund und der Erfahrung des urtümlichen Materials, das Jung in den Behandlungen von Patienten, sowie in seinem eigenen Lebensprozess fand, kam er zu dem Ergebnis, dass der psychischen Tätigkeit eine angeborene Struktur – manchmal spricht er auch von Strukturdominanten oder von unanschaulichen Grundformen – zugrunde liegen müsse. Menschliches Erleben und Verhalten basiert also auf einer allgemeinen Grundlage, „der Menschenart des Menschen“ (Jung, GW 9/1, § 152), die sich in jedem Individuum wieder finden lässt.
Die Hypothese des kollektiven Unbewussten (> Kollektiv > Unbewusstes, kollektives), und damit der Archetypen, führte zum Bruch zwischen C. G. Jung und S. Freud (> Freud-Jung-Beziehung) und u. a. dazu, dass die > Analytische Psychologie lange Zeit als mythologisch (> Mythos) und mystizistisch (> Mystik), auch reaktionär und antiemanzipatorisch abgewehrt und abgewertet wird. Inzwischen haben aber beispielsweise die > Biologie, die > Ethologie, die > Evolutionäre Psychologie, die Genforschung, die > Hirnforschung, die > Kognitive Psychologie und selbst auch die > Psychoanalyse so viele parallele Theorien zum Archetypenkonzept entwickelt, dass sie heute nichtnur als weitgehend bestätigt gelten kann, sondern sogar als selbstverständlich angsehen wird.
Archetypen können heute als evolutionär erworbene universale Bereitschafts- und Reaktionssysteme des menschlichen Organismus definiert werden, die in der Beziehung und Auseinandersetzung mit dessen Mit- und Umwelt typische, universal verbreitete Verhaltensweisen und Vorstellungen hervorbringen.
„Unser Leben ist dasselbe, wie es seit Ewigkeiten war. Es ist jedenfalls in unserm Sinne nichts Vergängliches, denn dieselben physiologischen und psychologischen Prozesse, wie sie dem Menschen seit Hunderttausenden von Jahren eigneten, dauern immer noch an und geben dem innern Gefühl tiefste Ahnung einer „ewigen“ Kontinuität des Lebendigen. Unser Selbst als ein Inbegriff unseres lebenden Systems enthält aber nicht nur den Niederschlag und die Summe alles gelebten Lebens, sondern ist auch der Ausgangspunkt, der schwangere Mutterboden alles zukünftigen Lebens, dessen Vorahnung dem innern Gefühl ebenso deutlich gegeben ist wie der historische Aspekt.“ (Jung, GW 7, § 303)
„Diese unbewußte Psyche, die aller Menschheit gemeinsam ist, besteht nicht etwa aus bewußtseinsfähigen Inhalten, sondern aus latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen. Die Tatsache des kollektiven Unbewußten ist einfach der psychische Ausdruck der Identität der Gehirnstruktur jenseits aller Rassenunterschiede. Daraus erklärt sich die Analogie, ja sogar Identität der Mythenmotive und der Symbole und der menschlichen Verständnismöglichkeit überhaupt. Die verschiedenen seelischen Entwicklungslinien gehen von einem gemeinsamen Grundstock aus, dessen Wurzeln in alle Vergangenheiten hinunterreichen. Hier liegt sogar der seelische Parallelismus mit dem Tier. Es handelt sich - rein psychologisch genommen - um gemeinsame Instinkte des Vorstellens (Imagination) und des Handelns.“ (Jung, GW 13, §12)
C. G. Jung vergleicht den Archetyp mit dem Achsensystem eines Kristalls, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge in gewisser Weise präformiert, ohne selber eine stoffliche Existenz zu besitzen. Die Eigenart des Herausbildens einer bestimmten Struktur ist dem Kristall zwar inhärent, aber sie „erscheint erst in der Art und Weise des Anschließens der Ionen und der Moleküle. Der Archetypus ist an sich leeres, formales Element, das nichts anderes ist als eine <facultas praeformanti>, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform. Vererbt werden nicht die Vorstellungen, sondern die Formen.“ (Jung, GW 9/1, § 155)
C. G. Jung verwendet anfänglich, sowohl für die primäre unanschauliche Struktur als auch für die im Bewusstsein erscheinenden Erlebnisse und Motive, den Begriff des Urbildes (> Bild), später den des Archetyps. Auch archetypische Prozesse, Situationen, Konflikte etc. werden nicht deutlich von archetypischen Figuren unterschieden. Diese unsystematische Verwendung seiner Begriffe ist sicher dafür mitverantwortlich, dass das Archetypen-Konzept oft missverstanden wurde und Kritiker behauptet haben, Jung gehe von der Vererbung archetypischer Bilder aus.
C. G. Jung unterscheidet endgültig seit 1946 in „Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen“ (vgl. Jung, GW 8) den unerkennbaren Archetyp an sich (per se) von den archetypischen Bildern, den Gestaltungen, den aktualisierten Erscheinungsformen des Archetyps, also den Erlebens- und Verhaltensweisen des Menschen, seinen psychischen Reaktionen, Symbolen. Jung charakterisiert den Archetyp zusätzlich auch als psychoid (griech. psyche: Seele; griech. eidos: Aussehen, Bild, Idee), als seelenartiges Gebilde, Kraft, Energie. Mit dem Begriff drückt er aus, dass er das eigentliche Wesen des Archetyps für bewusstseinsunfähig und transzendent hält, also die Grenzen von > Geist und > Materie übersteigend (> Unbewusstes, psychoides). Diese Vorstellung findet dann weitere Ausarbeitung in den Gedanken zur > Synchronizität, zum > Unus mundus und zum absoluten Wissen (> Wissen, absolutes).
Von C. G. Jung wie von seinen Nachfolgern sind viele archetypische Gestaltungen und Motive beschrieben worden. Am bekanntesten sind das > Mandala, das > Selbst, der > Mutterarchetyp > Vaterarchetyp und > Kindarchetyp (> Kind, Göttliches), der Archetyp des Schattens (> Schatten), der Anima und des Animus (> Anima/Animus: Klassische Auffassung), des Männlichen und Weiblichen Prinzips (> Männliches und Weibliches Prinzip), des Helden (> Heldenmythos > Heldenmythos > Heros-Prinzip), des Magiers (> Magier), der > Hexe, des Narren (> Narr) und des Tricksters (> Trickster), der/des Alten Weisen (> Weise, Alte > Weiser, Alter), des > Mysterium Coniunctions und des Gottesbildes (> Gottesbild). In den > Märchen, > Mythen, den Religionen der Menschheit (> Religion), der > Kunst und > Gesellschaft, sowie in den Fantasien (> Fantasie), Träumen (> Traum), Visionen (> Vision) als auch den alltäglichen Erlebens-und Verhaltensweisen des Einzelnen findet sich reiches Material an solchen archetypischen Motiven.
Die Anzahl der Archetypen entspricht den typischen Naturgesetzmäßigkeiten, Naturvorgängen, Naturereignissen (Himmel, Erde, Wasser, Feuer, Berg, Wald, Wiese, Wüste, Meer, Holz, Stein, Eis usw.) ist damit „nach unten“ hin – also in Richtung allgemeiner biologischer und psychischer Grundmöglichkeiten des Erlebens und Verhaltens, die die Menschen haben können – relativ begrenzt, andererseits sind ihre Ausdrucksformen „nach oben“ hin – also in Richtung individueller Ausprägungen und Erscheinungsformen – offen, denn sie erscheinen, im Einzelnen wie in der Gesellschaft, in immer neuen schöpferischen Formen und Kombinationen. Fast jeder Begriff, den Menschen erfunden haben, ist, wenn man ihm assoziativ "in die Tiefe" folgt, mit mehreren archetypischen Aspekten verbunden, z. B. der Baum verbindet sich uns mit weiteren archetypischen Erfahrungen wie Natur, Leben, Jahreszeiten, Wachstum, Verwurzelt-Sein, in die Höhe streben, Nahrung, Schutz, Entspannung, Ruhe usw.)
Da es sich bei den archetypischen Mustern um kollektive, d. h. allgemein menschliche Phänomene handelt, wirken sie in alle Lebensbereiche hinein. Sie motivieren die Fantasien und Handlungen des Einzelnen, der > Gesellschaft und beeinflussen kulturelle Entwicklungen zum Guten wie zum Schlechten. Die stärksten Impulse der Menschheit gehen alle auf Archetypen zurück. Das gilt insbesondere für religiöse Vorstellungen; aber auch wissenschaftliche, philosophische (> Philosophie) und moralische (> Ethik > Moral) Entwicklungen machen davon keine Ausnahme:
„Unsere persönliche Psychologie ist nur eine dünne Haut, ein leichtes Kräuseln auf dem Ozean der kollektiven Psychologie. Der machtvolle Faktor, der Faktor, der unser Leben verändert, der die Oberfläche unserer bekannten Welt verändert und der Geschichte macht, ist die kollektive Psychologie, und die kollektive Psychologie bewegt sich nach Gesetzen, die von denen unseres Bewusstseins von Grund auf verschieden sind. Die Archetypen sind die großen entscheidenden Mächte, sie bringen die echten Ereignisse hervor, und nicht unser persönlicher Verstand und praktischer Intellekt [..] Es sind ohne Zweifel die archetypischen Bilder, die das Schicksal des Menschen bestimmen.“ (Jung, C. G., Jacobi, J., 1971, S. 63)
Archetypische Faktoren können, wenn sie lange aus dem Leben eines Einzelnen oder einer Gesellschaft ausgeschlossen worden sind, eine hohe emotionalen „Ladung“ (> Komplex) und > Energie besitzen. Sie üben dann, wenn sie sich „konstellieren (> Konstellation), eine starke Faszination (> Numinoses) aus und führen leicht zu einer unbewussten > Identifikation mit ihnen, wodurch es zu einer psychischen Infektion und > Inflation im Einzelnen wie im Kollektiven (> Kollektiv, > Kollektivpsyche) kommen kann. „Die gigantischen Katastrophen, die uns bedrohen, sind keine Elementarereignisse physischer oder biologischer Natur, sondern psychische Ereignisse. Uns bedrohen in schreckenerregendem Maße Kriege und Revolutionen, die nichts anderes sind als psychische Epidemien. Jederzeit können einige Millionen Menschen von einem Wahn befallen werden, und dann haben wir wieder einen Weltkrieg oder eine verheerende Revolution.“ (Jung, GW 17, § 302)
Die Annahme des kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) mit seiner archetypischen Struktur führt C. G. Jung über die bisherigen Vorstellungen eines persönlichen Unbewussten in der > Psychoanalyse weit hinaus: „Das kollektive Unbewusste ist alles weniger als ein abgekapseltes, persönliches System, es ist weltweite und weltoffene Objektivität. Ich bin das > Objekt aller Subjekte (> Subjekt) in völliger Umkehrung meines gewöhnlichen Bewusstseins, wo ich stets Subjekt bin, welches Objekt hat.“ (Jung, GW 9/I, § 46) Dies ist die Grundannahme für Jung‘s Konzept der objektiven Psyche (> Psyche, objektive > Wirklichkeit, psychische) und hat Konsequenzen, die sich erst heute allmählich erahnen lassen.
Für die Psychotherapie (> Psychotherapie, analytische) hat das Archetypenkonzept tiefreichende Bedeutung, denn die seelische Störung (> Neurose) ist oft Ausdruck davon, dass sich ein Mensch von seinen archetypischen Wurzeln entfernt und damit die Beziehung zu seinem Unbewussten und zu einer gesunden > Selbstregulation, die auf archetypischer Basis verläuft, verloren hat. Außerdem stellt das Archetypenkonzept den Menschen, sein Leiden, seine Heilung und seine Entwicklung in einen größeren Zusammenhang, der ihn mit allen anderen Menschen und dem Lebensstrom verbindet (> Einheitswirklichkeit > Spiritualität). So steht beispielsweise hinter einer persönlichen Trennungserfahrung oder einer tiefen Angst vor Einsamkeit das archetypische Phänomen der Trennung überhaupt. Hierher gehört z. B. das Motiv der „Weltelterntrennung“ oder das Motiv der Trennung der Geschlechter, ohne die eine Welt- und Menschheitsentstehung nicht möglich geworden wäre. Durch die Erfahrung eines solchen tragenden Untergrundes fällt der Einzelne, mit seinen vermeintlich ganz persönlichen, Ängsten und Leiden nicht aus der Gesamtheit der Menschheit heraus, sondern kann sich darin gehalten fühlen (> Amplifikation). Das ist ein sehr folgenreicher und auch tröstlicher Gedanke für den Menschen in innerer Not immer dann, wenn es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt.
Angestrebtes, wenn auch nicht immer erreichtes Ziel einer analytischen Psychotherapie ist es von daher, dem Einzelnen z. B. über den Weg seiner Erfahrungen und Gefühle, seiner Wünsche, Sehnsüchte und Fantasien (> Fantasie), der > Imagination, der Träume (> Traum) und Symbole (> Symbol) einen Zugang zu seinen unbewussten Tiefenschichten zu ermöglichen, denn der Mensch muss erfahren, „was ihn trägt, wenn er sich nicht mehr tragen kann. Einzig diese Erfahrung gibt ihm eine unzerstörbare Grundlage“ (Jung, GW 12, § 32)
Literatur: Jacobi, J. (1957): Komplex – Archetypus – Symbol; Obrist, W. (1990): Archetypen; Seifert, T. (1975): Archetypus und inneres Modell der Welt; Seifert, T. (1981): Lebensperspektiven der Psychologie.
Autor: T. Seifert/L.Müller