Ich/Ich-Bewusstsein: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Ich/Ich-Bewusstsein
Links: > Bewusstsein > Ich-Komplex > Ich-Selbst-Achse > Ich, integrales > Selbst
Definition: Die Frage nach dem Wesen des Ich hat den Menschen seit Urzeiten beschäftigt. Meistens ist es als eine relativ autonome Instanz betrachtet worden, die von sich aus denkt, plant, entscheidet, will, handelt. Gleichzeitig ist aber auch schon immer erlebt worden, dass dieses Ich-Bewusstsein doch nicht ganz der Herr im eigenen Hause ist, denn "Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich" (Röm. 7, 14-23) oder "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" (Mk. 14, 38).
Information: Mit dem Widerspruch zwischen dem, was der Mensch idealerweise - von seinem bewussten Fühlen, Denken und Erkennen her sein könnte - und dem, was er dann meistens tut - nämlich seinem > Schatten, seinen "Begierden", "Eitelkeiten", "Lüsten", und "Versuchungen" zu folgen - haben sich die religiösen, philosophischen und psychologischen Systeme unentwegt beschäftigt. Die Antwort auf den Konflikt sind meist eine Unzahl von moralischen Regeln, Geboten, Verboten, Appellen an die Vernunft, die Liebe, den "guten Willen", Ritualen, Bußen, Kasteiungen, Bestrafungen und sonstige Austreibungsversuche und Unterdrückungsversuche gewesen. Diese führen aber in der Regel zu keinen wirklich befriedigenden Ergebnissen, sondern zu einem pessimistischen Menschenbild ("Erbsünde“) und zu einem permanenten Minderwertigkeits-, Scham- und Schuldgefühl (> Minderwertigkeitsgefühl > Scham > Schuldgefühl)
S. Freud hat den Weg zu einer neuen Einstellung dem Ich-Bewusstsein gegenüber bereitet: Mit dem systematischen Ernstnehmen des Unbewussten (> Unbewusstes) und dessen Triebkomponenten (> Es) fügt er der Menschheit die "dritte große Kränkung" zu. Nachdem Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos gerückt, Darwin die Abstammung des Menschen vom Tier behauptet hat, mutet nun die > Psychoanalyse mit ihrer Theorie vom Unbewussten dem Menschen zu, zu akzeptieren, er sei nicht "Herr im eigenen Haus" des Bewusstseins. Allerdings legt Freuds Strukturmodell der Persönlichkeit mit der Unterscheidung der Persönlichkeitsinstanzen > Es, Ich-Bewusstsein und > Über-Ich nahe, es handele sich bei diesem Ich-Bewusstsein und den anderen Instanzen um eigenständige, relativ autonome Entitäten. Das Ich-Bewusstsein soll die Aufgabe haben, zwischen Es, Über-Ich und der Außenwelt zu vermitteln. Im Bild des Reiters auf dem Pferde hat Freud versucht, die Beziehung zwischen dem lenkenden Ich-Bewusstsein und dem triebhaften Es darzustellen, wobei er einräumt, dass der Reiter oft das Ross dahin führen muss, wohin das Ross gehen will. Dennoch hegt er die Vorstellung, dass das Es durch eine ausreichend gründliche Analyse des Unbewussten weitgehend seine Dominanz zugunsten des Ich-Bewusstsein aufgeben könne. Das reife Ich-Bewusstsein soll dann eine Vielzahl von Funktionen (> Ich-Funktionen) übernehmen können, wie z. B. die Realitätsfunktion (> Realitätsprüfung), die Abwehrfunktion (> Abwehr > Abwehrmechanismen), die motorische Kontrolle, das Gedächtnis etc. Inzwischen ist allerdings bekannt, dass diese Funktionen weitgehend unbewusst ablaufen und autonom gesteuert werden.
Für C. G. Jung, der eine viel umfassendere Vorstellung vom Unbewussten (> Unbewusstes) hat, ist das Ich-Bewusstsein ein Aspekt der > Ganzheit des > Selbst und es ist Aufgabe der > Individuation, sich der Bezogenheit und Einheit des Ich-Bewusstsein mit dem Selbst bewusst zu werden. Das Ich-Bewusstsein versteht er als einen zentralen > Komplex (> Ich-Komplex), der eng mit dem > Bewusstsein (weshalb in der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) häufig auch von Ich-Bewusstsein gesprochen wird) verknüpft und dessen zentraler Bezugspunkt ist, gleichzeitig aber auch tiefe Wurzeln im Unbewussten hat. "Das Ich, als das angeblich und fiktiv Allerbekannteste, ist in Wirklichkeit ein höchst komplexer Tatbestand, der unergründliche Dunkelheiten in sich schließt. Ja man könnte es sogar als eine relativ konstante Personifikation des Unbewussten selber definieren oder als jenen Schopenhauerschen Spiegel, in welchem das Unbewusste des eigenen Gesichtes gewahr wird. Alle Urwelten vor dem Menschen waren physisch vorhanden. Sie waren ein namenloses Geschehen, aber kein bestimmtes Sein, denn es gab jene minimale Konzentration des ebenfalls vorhandenen Psychischen noch nicht, welche das Wort aussprach, das die ganze Schöpfung aufwog: Das ist die Welt und das bin ich. Das war der erste Tag der Welt, der erste Sonnenaufgang nach dem Ur-Dunkel, als jener bewusstseinsfähige Komplex, der Sohn der Dunkelheit, das Ich, erkennend Subjekt und Objekt schied und damit der Welt und sich selber zum bestimmten Sein verhalf, denn er gab ihr und sich selber Stimme und Name." (Jung, GW 14/1 § 125) Dem Ich-Bewusstsein des Menschen kommt demnach eine weltschöpferische Funktion zu, es hat "kosmische Bedeutung" (vgl. Jung, 1962 S. 259). Diese Auffassung Jungs kommt den modernen konstruktivistischen (> Konstruktivismus) und neurobiologischen Konzepten - die übrigens auch dem Unbewussten wieder einen gebührenden Platz einräumen - sehr nahe. Nach diesen handelt es sich bei dem Ich-Bewusstsein um das virtuelle Zentrum einer virtuellen Welt. Das Ich-Bewusstsein ist zwar nicht der Urheber der psychischen Prozesse, im Gegenteil, es erfährt in der Regel als letzter, was sich jetzt ereignen wird, es ist aber von großer Wichtigkeit für den Menschen, denn es steht in einem engen Zusammenhang mit der Bildung von > Bewusstheit und dem Identitätserleben. Damit erst wird eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, dem Eigenen und dem Anderen möglich. "Ohne die Möglichkeit zu virtueller Wahrnehmung und zu virtuellem Handeln könnte das Gehirn nicht die komplexen Leistungen vollbringen, die es vollbringt. Die Wirklichkeit und ihr Ich-Bewusstsein sind Konstruktionen, welche das Gehirn in die Lage versetzen, komplexe Informationen zu verarbeiten, neue unbekannte Situationen zu meistern und langfristige Handlungsplanung zu betreiben." (vgl. Roth 2001, S. 340)
Literatur: Deneke, F. W. (1999): Psychische Struktur und Gehirn: Die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten; Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln.
Autor: L. Müller