Anima/Animus
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Definition: Unter den Begriffen Anima und Animus (lat.: Lufthauch, Atem) wird philosophisch allgemein „Seele“ verstanden. Anima bezeichnet dabei mehr den treibenden, lebendigen, „animalischen“ Aspekt, während Animus als Spiritus (lat.: Hauch, bewegte Luft, Wind, Lebenshauch, Atem), den geistig-lenkenden Aspekt betont, wie er etwa in den Begriffen „Spiritus sanctus“ (der heilige Geist) oder „Spiritus Rector“ (leitender, treibender, belebender Geist) zum Ausdruck kommt. C. G. Jung verstand Anima und Animus als Personifikationen einer weiblichen Natur im Unbewussten des Mannes und einer männlichen Natur im Unbewussten der Frau.
Information:
A. Klassisches Konzept
Die sich in den archetypischen Gestaltungen Anima und Animus abbildende psychische Doppelgeschlechtlichkeit entspreche nach C. G. Jungs Auffassung der biologischen Tatsache, dass es die größere Anzahl von männlichen (weiblichen) Genen sind, welche den Ausschlag bei der Bestimmung des männlichen (weiblichen) Geschlechtes geben. Die kleinere Anzahl der gegengeschlechtlichen Gene scheint einen gegengeschlechtlichen Charakter zu bilden, welcher aber infolge seiner Unterlegenheit gewöhnlich unbewusst bleibt.
Alle archetypischen Manifestationen, also auch Animus und Anima, haben einen negativen und einen positiven, einen primitiven und einen differenzierten Aspekt. „Der Animus ist in seiner ersten unbewussten Form spontane, unbeabsichtigte Meinungsbildung, die einen beherrschenden Einfluss auf das Gefühlsleben ausübt, die Anima dagegen eine spontane Gefühlsbildung mit nachfolgender Beeinflussung resp. Distorsion des Verstandes. ("Sie" hat ihm den Kopf verdreht.) Der Animus projiziert sich daher mit Vorliebe auf "geistige" Autoritäten und sonstige, Helden (inkl. Tenöre, Künstler und Sportgrößen). Die Anima bemächtigt sich gerne des Unbewussten, Leeren, Frigiden, Hilflosen, Beziehungslosen, Dunkeln und Zweideutigen in der Frau. [...] Seine Anima sucht zu einigen und zu vereinen, ihr Animus will unterscheiden und erkennen. Dies ist ein strikter Gegensatz [...]" (Die Psychologie der Übertragung, in: Praxis der Psychotherapie, Gesammelte Werke, Band 16, S. 323.)
"Die Anima ist der Archetypus des Lebens [...] Denn das Leben kommt zum Manne durch die Anima, obwohl er der Ansicht ist, es käme zu ihm durch den Verstand (mind). Er meistert das Leben durch den Verstand, aber das Leben lebt in ihm durch die Anima. Und das Geheimnis der Frau ist, dass das Leben zu ihr durch die geistige Gestalt des Animus kommt, obwohl sie annimmt, es sei Eros, der ihr das Leben bringt. Sie meistert das Leben, sie lebt sozusagen habituell durch den Eros, aber das wirkliche Leben, bei dem sie auch Opfer ist, kommt zur Frau durch den Verstand, der in ihr durch den Animus verkörpert ist." (Unveröffentlichter Seminarbericht über Nietzsches Zarathustra, 1937, zit. nach Jung, Jaffé, ETG, S. 408)
C. G. Jungs allgemeine Definition, nach der die Anima die archetypische weibliche Gestalt im Unbewussten des Mannes und der Animus die archetypische männliche Gestalt im Unbewussten der Frau darstellen (vgl. Jaffé, 1962, S. 189), und das hinter dieser Definition stehende Konzept grundsätzlicher Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, hat im frühen 20. Jahrhundert revolutionierende Kraft. In einer Zeit, in der Frauen noch um ihre politischen und humanen Rechte ringen, und die Frau und das weibliche Prinzip generell durch das patriarchale Denken abgewehrt und abgewertet sind, geht Jung ganz selbstverständlich von der Annahme aus, dass in jedem Mann Weibliches und in jeder Frau Männliches angelegt ist.
Männliches und Weibliches sind für C. G. Jung zwar unterschiedliche Prinzipien oder psychische Qualitäten, aber von gleicher Wichtigkeit für die Psyche und die Welt. Ausgehend von der ganzheitlichen, bipolaren (> Androgynie > Ganzheit > Hermaphrodit > Syzygie) Natur des Selbst, entwickelt sich ein Mensch unter dem Einfluss genetischer und sozialer Faktoren physisch und psychisch zur Frau oder zum Mann, er bildet eine weiblich oder männlich geprägte > Identität (> Identität, personale) und eine weiblich oder männlich orientierte > Persona aus. Die gegengeschlechtlichen weiblichen bzw. männlichen Seelenanteile bleiben je nach Stärke der geschlechtlichen Identitätsentwicklung (> Geschlechtsidentität) unbewusst, werden damit aber auch ersehnt und meist auf ein Außenobjekt projiziert. Sie werden als emotional hoch aufgeladene Anima/Animus-Komplexe (> Komplex) wirksam, die eine starke, oft numinose (> Numinoses) und faszinierende, der bewussten Kontrolle teilweise entzogene, positive wie negative Wirkung haben.
Was C. G. Jung mit diesem zwar unmittelbar einleuchtenden, von seinen verschiedenen Definitionen her aber oft schwer verständlichen Begriffspaar erfassen will, lässt sich vielleicht am besten per exclusionem ausdrücken: Animus/Anima sind das, was übrig bleibt, wenn von den Sehnsüchten und Vorstellungen, die Mann und Frau vom Weiblichen und Männlichen haben, die konkrete Frau und der konkrete Mann abgezogen werden (vgl. Meier, 1986, S. 150).
In Bezug auf die Anima schreibt C. G. Jung: „Jeder Mann trägt das Bild der Frau von jeher in sich, nicht das Bild dieser bestimmten Frau, sondern einer bestimmten Frau. Dieses Bild ist im Grunde genommen eine unbewusste, von Urzeiten herkommende und dem lebenden System eingegrabene Erbmasse, ein „Typus“ („Archetypus“) von allen Erfahrungen der Ahnenreihe am weiblichen Wesen, ein Niederschlag aller Eindrücke vom Weibe, ein vererbtes psychisches Anpassungssystem. Wenn es keine Frauen gäbe, so ließe sich aus diesem unbewussten Bild jederzeit angeben, wie eine Frau in seelischer Hinsicht beschaffen sein müsste. Dasselbe gilt auch von der Frau, auch sie hat ein ihr angeborenes Bild vom Manne. Die Erfahrung lehrt, dass man genauer sagen sollte: ein Bild von Männern, während beim Manne es eher ein Bild der Frau ist. Da dieses Bild unbewusst ist, so ist es immer unbewusst projiziert in die geliebte Figur und ist einer der wesentlichsten Gründe für leidenschaftliche Anziehung und ihr Gegenteil.“ (Jung, GW 17, § 338)
Die Anima sei es, die den Mann hintergründig zu seiner rastlosen Suche, zu seinen Taten und Abenteuern innen und außen antreibe. Sie sei die Quelle seiner tiefsten Sehnsucht, das Ziel seiner innigsten Liebe und seines größten Hasses und damit Chance und Gefahr zugleich. Sie fordere von ihm sein Höchstes und Bestes, könne ihn aber auch, wenn er ihr verfalle, in sein Verderben ziehen („femme inspiratrice, femme fatale“). Sie könne einmal positiv, ein anderes Mal negativ auftreten, einmal als Göttin, ein anderes Mal als Hure, als mütterliche Freundin, geheimnisvolle Fremde, als junges Mädchen, als Hexe, Priesterin, Heilige, als mystische Schwester (soror mystica, vgl. > Alchemie) und als Weisheit (> Weise, alte). Sie erscheine oft als außerhalb der uns bekannten Zeit stehend, als uralt oder annähernd oder ganz unsterblich. Die Anima werde insbesondere leicht auf einen Frauentyp projiziert, wie er sich beispielsweise in Tänzerinnen und Schauspielerinnen verkörpere: schön, unschuldig-erotisch, lebendig, vieldeutig, mit einer „verheißungsvollen Unbestimmtheit, mit dem sprechenden Schweigen einer Mona Lisa – alt und jung, Mutter und Tochter, von fragwürdiger Keuschheit, kindlich und von Männer entwaffnender naiver Klugheit.“ (Jung, GW 17, § 339)
C. G. Jung unterscheidet vier Stufen in der Kultur des Eros und damit auch des Animabildes (Jung, GW 16, § 361). Die erste Stufe (in Gestalt der Urmutter, der Eva) bildet den rein biologischen, erdhaften, vorwiegend der Fortpflanzung dienenden Aspekt (vgl. > BIOS-Prinzip), die zweite Stufe betrifft einen überwiegend sexuellen Eros auf ästhetischem und romantischem Niveau (z. B. in Gestalt der Helena), die dritte Stufe erhöht den Eros zur höchsten Wertschätzung und vergeistigt ihn (z. B. in Gestalt der Maria, geistige Mutterschaft) und auf der vierten Stufe findet sich die Weisheit (z. B. in Gestalt der Sophia).
Die (nur partiell mögliche) > Integration der Anima-Aspekte verleihe dem Mann vor allem Eros (> Eros-Prinzip) und Beziehungsfähigkeit. Darüber hinaus übernehme die Anima eine Brücken-Funktion zu den tieferen Schichten des Unbewussten (> Unbewusstes) und des > Selbst. Die undifferenzierte, unbewusste Anima äußere sich bei ihm als Eitelkeit, Empfindlichkeit, Launenhaftigkeit, Stimmungsschwankungen, Unzuverlässigkeit, Reizbarkeit, Schwärmerei und Träumerei, Promiskuität, einem unsicherem Eros, der Sexualität mit Liebe verwechsle.
Für die Frau sieht die Situation nach C. G. Jungs Auffassung etwas anders aus. Unter der Voraussetzung, dass sie mit sich selbst und ihrer Weiblichkeit identisch ist, bedürfe sie zu einem ganzheitlichen und schöpferischen Leben der Beziehung zu ihrer inneren Männlichkeit, dem Animus. Mit dessen Hilfe könne sie ihre innere Fülle strukturieren, ins fokussierte Licht des Bewusstseins heben und in eine geistige Form bringen. Er könne ihr Mut, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit vermitteln und sie zu eigener geistiger Aktivität und Initiative ermutigen. Der Animus könne – ähnlich wie die Anima – in der Projektion ein starkes Faszinosum (> Numinoses) für die Frau darstellen und sich auf den verschiedensten Stufen und in den verschiedensten Formen zeigen.
E. Jung (Jung, E., 1967) hat vier Aspekte oder Stufen unterschieden: Kraft (z. B. „Naturbursche“, Abenteurer), Tat (z. B. mutige Helden, Sportler, Tenöre), Wort (z. B. Künstler, Schauspieler, Manager, Politiker) und Geist (Pfarrer, Therapeuten, Gurus > Weiser, Alter). Häufig trete der Animus in Fantasien und Träumen auch in der Mehrzahl auf, als Ausdruck einer, wie Jung vermutet, die bewusste, eher monogam orientierten Einstellung der Frau kompensierenden, polygamen Tendenz.
Während also – tendenziell gesehen – die Anima mehr den Zugang zum Unbewussten eröffnet, führt der Animus mehr zu einer aktiven Gestaltung unbewusster Inhalte. Bleibe er undifferenziert, verführe er z. B. zu Vorurteilen und Meinungen, die als unreflektierte Wahrheiten angesehen würden, zu heiligen Überzeugungen, zu Machtkämpfen, zur Besserwisser- und Rechthaberei, zu negativem Kritizismus, aggressiven, heimtückischen Gedanken und zur Selbstabwertung.
Während die > Integration des Schattens (> Schatten) von C. G. Jung als „Gesellenstück“ bezeichnet wird, sieht er die Integration von Anima/Animusals „Meisterstück“ im Prozess der > Individuation und der zwischenmenschlichen Beziehung an, denn sie sind meist noch unbewusster als der Schatten. Sowohl in der therapeutischen als auch in der partnerschaftlichen Beziehung treten vielfältige Anima/Animus-Projektionen und -Interaktionen auf, die oft erst nach langjährigen Beziehungserfahrungen und „Beziehungsarbeit“ allmählich erkannt und modifiziert werden können. Während in der ersten Lebenshälfte die Differenzierung von Anima/Animusüber die Entwicklung des Ich-Bewusstseins, der Geschlechtsidentität, über die Loslösung vom Vater- und Mutterarchetyp (> Vaterarchetyp) (> Mutterarchetyp) und über die Anima/Animus-Projektion auf den Sexual- und Lebenspartner verläuft, können sich Anima/Animusin der zweiten Lebenshälfte mehr nach innen auf das > Selbst, auf das Fehlende und Ersehnte in der eigenen Psyche hin orientieren. (> Psychopompos > Funktion, transzendente). Voraussetzung dafür ist allerdings die Fähigkeit zur Rücknahme der Projektionen auf äußere Objekte und die subjektstufige Betrachtung der Bilder aus dem Unbewussten. Oft ist ein tiefer gehendes Verständnis für das gegengeschlechtliche Prinzip innen und außen erst im fortgeschrittenen Alter nach entsprechender, meist kostspieliger Lebenserfahrung möglich.
Das von C. G. Jung vielfach verwendete Modell der > Beziehungsquaternio hat er auch auf die Kommunikation zwischen Frau/Mann und Animus/Anima übertragen, was bisher aber, beispielsweise für die Paartherapie, noch nicht systematisch weiter geführt wurde. Es lassen sich (theoretisch) folgende Beziehungsebenen unterscheiden: die bewusste, persönliche Beziehung; die Beziehung der Frau zu ihrem Animus und eine solche des Mannes zu seiner Anima; die (unbewusste) Beziehung von Animus zu Anima; die Beziehung des Animus zum Mann und eine der Anima zur Frau. (Jung, GW 16, § 422f)
Diese Ebenen fließen praktisch aber immer ineinander und können im Einzelfall kaum voneinander unterschieden werden. So wird schon an diesem einfachen Schema deutlich, wie komplex die weiblich-männliche Kommunikation ist. Die Versöhnung und Vereinigung des weiblichen und des männlichen Prinzips innen und außen (> Coniunctio > Hierosgamos > Syzygie) ist ein oft umschriebenes Ziel der Individuation, bleibt aber, wie die Realisation oder Realisierung des > Selbst auch, ein unerreichbares Ideal. Die Erfahrung zeigt, dass die individuelle Persönlichkeit nicht alle weiblichen und männlichen Aspekte erfahren und leben kann. Außerdem ist ein feststehendes Bewertungssystem darüber, wie weiblich oder männlich frau/man als individueller Mensch zu sein habe, nicht wünschenswert, da jeder Mensch eine einzigartige Kombination dieses Polaritätspaares darstellt. Allerdings kann die Auseinandersetzung mit den Anima/Animus-Aspekten zu einem tieferen Verständnis der eigenen Persönlichkeit, sowie des gegengeschlechtlichen Partners, zu größerer Toleranz für die vielen Varianten der weiblich-männlichen Polarität führen.
B. Kritik, Weiterentwicklung
Die Entwicklung und Ausgestaltung des Anima/Animus-Begriffs und -Konzepts durchzieht C. G. Jungs gesamtes Werk und Theorienbildung, von seiner ersten Ausarbeitung des Begriffs des Seelenbildes 1921 (Jung, GW 6, § 887), bis hin zur Auffassung von König und Königin in seinen alchemistischen Schriften und in seinem späten Werk Mysterium Coniunctionis (GW 14). Die damit verbundenen unterschiedlichen Beschreibungen und Begriffsbestimmungen haben zu vielfältiger Kritik und Kontroversen innerhalb und außerhalb der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) geführt, bis hin zu der Forderung, das Anima/Animus-Konzept ganz aufzugeben (vgl. Springer, 2000).
Die Gründe für diese Kontroversen liegen u. a. in der Schwierigkeit, die verschiedenen Beschreibungen, die C. G. Jung gegeben hat, miteinander sinnvoll zu verbinden: in ihrer Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit, ihrer fehlenden Differenzierung von anderen psychischen Aspekten (wie z. B. dem > Eros-Prinzip oder > Logos-Prinzip, den (> Orientierungsfunktionen) und in der zeitbedingten patriarchalen Vorurteilsstruktur, die den Anima/Animus-Zuschreibungen anhaftet, und die Klischeevorstellungen über das Männliche und das Weibliche (und ihren zahlreichen Zwischenstufen und Varianten), die sogar sexistische und chauvinistische Einstellungen unterstützen könnten. Da sich zudem viele Aspekte, die mit Anima/Animusverbunden werden, bei beiden Geschlechtern in ähnlicher Weise vorfinden, vertreten verschiedene Autoren (Hillman, 1981 a, 1981 b; Heisig, 1996, Kast, 1984, Whitmont, 1989) die Auffassung, Anima/Animussollten als archetypische Strukturen angesehen werden, die für beide Geschlechter in gleicher Weise gültig sind.
Gegen eine solche Gleichsetzung der Anima/Animus-Aspekte für beide Geschlechter spricht, dass es unter der Perspektive neuerer Ergebnisse, z. B. der Evolutionspsychologie und der Hirnforschung, zwischen Frauen und Männern biopsychische Unterschiede gibt, die sich nicht befriedigend allein als Ausdruck gesellschaftlicher Zuschreibung und Sozialisation erklären lassen, sondern auch als eine evolutionär bedingte, zweckmäßige Rollenverteilung angesehen werden müssen (> Geschlecht > Männliches und Weibliches Prinzip).
Damit müssten auch bewusste/unbewusste Vorstellungen, Fantasien und Sehnsüchte, die z. B. ein Mann mit dem Weiblichen verbindet, wie auch seine eigenen „weiblichen“ Seiten, naturgemäß etwas anderes sein, als das, was die Frau an Weiblichem in sich selbst empfindet. Zudem symbolisieren die Anima/Animus-Aspekte oft das Fehlende, Nicht-Vorhandende, aber zutiefst ersehnte andere Prinzip, dass nicht im Betreffenden selbst, sondern nur im gegengeschlechtlichen Anderen erfahren werden kann (vgl. Müller, 2000; Braun, 2001).
A. Stevens (1993, 2002) verteidigt deshalb die ursprüngliche Jung Auffassung. In einer Zeit, in der die allgemeine Psychologie, Biologie, Medizin begännen, Jungs Idee des Archetypischen im Menschen ernst zu nehmen und zu belegen, sollten gerade die Jungianer nicht die alte tabula-rasa-Theorie der menschlichen Entwicklung wieder beleben. Die Vorstellung Jungs, dass Körper und Biologie, Geist, Verstand und Seele Aspekte einer archetypischen Realität (> unus mundus, Einheitswirklichkeit) seien, machen das Zentrale der Analytischen Psychologie aus. Diese Grundidee werde aber durch den Versuch infrage gestellt, die Logosqualität des männlichen und die Erosqualität des weiblichen Bewusstseins generell zu verwerfen und, unabhängig vom Geschlecht, jedem Menschen gleiche Anima- und Animusaspekte zuzuschreiben.
Ein vorläufiger Kompromiss zwischen beiden Positionen könnte darin bestehen, zwischen einem weiblichen und männlichen Prinzip einerseits (> Männliches und Weibliches Prinzip) und den Anima/Animus-Aspekten andererseits zu unterscheiden. Danach wäre Weibliches wie Männliches prinzipiell in beiden Geschlechtern, in jeweils individuellen Ausprägungen und Variationen, vorhanden und die Begriffe Anima/Animusblieben den jeweils geschlechtsspezifischen Varianten der Prinzipien vorbehalten. Die Anima bezeichnet dann die spezifische Gesamtheit aller bewussten und unbewussten Aspekte und Funktionen des weiblichen Prinzips im Mann, der Animus die spezifische Gesamtheit aller bewussten und unbewussten Aspekte und Funktionen des männlichen Prinzips in der Frau. In dieser Definition könnte sowohl das Gemeinsame, als auch das Unterschiedliche zwischen Frau und Mann gefasst werden.
Autor: A. Müller, L. Müller, G. Sauer
Literatur: Franz, M. -L. v. (1968): Der Individuationsprozess; Heisig, D. (1996): Die Anima; Hillman, J. (1985): Anima; Jung, E. (1967): Animus und Anima; Kast, V. (1984): Paare; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit. Samuels, A. (1989 a): Jung und seine Nachfolger; Stevens, A. (2002): Archetype Revisited.