Inzeststufen

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Keyword: Inzeststufen

Links: (> Bewusstsein, matriarchales > Bewusstsein, patriarchales > Bewusstsein, schöpferisches > Bewusstseinsentwicklung > Heldenmythos > Inzest > Inzestfantasie > Progression > Regression > Verwandtschaftslibido

Definition: In den entwicklungspsychologischen Konzepten von E. Neumann wird der Begriff des > Inzest (> Inzestfantasie) symbolisch für eine spezifische Situation oder Beziehung zwischen > Bewusstsein und Unbewusstem (> Unbewusstes) oder Ich (> Ich/Ich-Bewusstsein) und > Selbst verwendet. Die symbolische Verwendung dieses wie auch anderer Begriffe, etwa dem der Kastration > Kastration/Kastrationskomplex entspricht zum einen dem mythologisch-symbolisch-hermeneutischen Ansatz Neumanns, zum anderen ist sie historisch zu verstehen: Neumann argumentiert wie C. G. Jung gegen manche einseitigen, psychoanalytischen Auffassungen, gegen ein konkretistisches und für ein symbolisches Verstehen der unbewussten psychischen Vorgänge (> Einstellung, symbolische).

Information: Die Ausgangsbasis der Ich- und Bewusstseinsentwicklung wird von Neumann gesehen als ein natürliches, selbstverständliches Unbewusstsein, ein Enthaltensein im Unbewussten. Nicht das Bewusstsein ist das ursprünglich Gegebene, sondern das Unbewusstsein. Die Entwicklung zum Ich-Bewusstsein aus dem Unbewussten und der Urbeziehung heraus stellt zunächst eine Anstrengung dar, die auch mit Unlustgefühlen, Trägheit und Widerständen verbunden ist. Während der ersten Phasen der Ich-Entwicklung ist deshalb die Tendenz, unbewusst bleiben zu wollen, noch sehr hoch. Gegen diese Tendenz wirkt als Gegenkraft ein "Instinkt" (> Instinkt) zum Bewusstwerden, zur > Progression und > Zentroversion, der den Menschen dazu drängt, sich aus der Natur- oder Ursituation des Enthalten- und Unbewusstseins heraus zu entwickeln (> Filialisierung des Ich > Individuation > Principium individuationis).

Jung beschreibt diese widerstreitende Dynamik u. a. als die Ambivalenz zwischen der endogamen, introversiven, regressiven und der exogamen, progressiven Tendenz der > Libido (> Heiratsquaternio > Verwandtschaftslibido) und sieht sie als den archetypischen Hintergrund der Inzestfantasien (> Inzestfantasie).

Neumann differenziert entsprechend seiner Stadien der Ich-Bewusstseinsentwicklung (> Bewusstseinsentwicklung: Mythologische Stadien) drei Stufen des Verhältnisses von regressiver und progressiver psychischer Energie, die er als drei Formen oder Stufen des Inzests bezeichnet. Je nach Entwicklungsgrad, Differenziertheit und Festigkeit des Ich-Bewusstseins nennt er sie: 1. uroborischer Inzest (> Uroboros), 2. matriarchaler Inzest (Bewusstsein, matriarchales > Matriarchat) und 3. Heldeninzest (> Bewusstsein, patriarchales > Heldenmythos > Patriarchat).

1. Uroborischer Inzest: Das Ich-Bewusstsein ist in dieser Stufe noch sehr eng mit dem Unbewussten verbunden. Die im Selbst enthaltenen Ich-Keime beginnen sich zu entfalten, erleben aber noch nicht die Lust der freiwilligen Aktivität, des autonomen Bewusstseins, noch nicht die Lust der Helligkeit und der Ordnung. Die Regression, das Wiedereintauchen ins Unbewusste, also der "Inzest" wird vom Ich als lustvoll, als erlösend, als Schutz, als Rückkehr in die Urtiefe, in den Schoß des "mütterlichen" Unbewussten erlebt, als "passives Fortgenommenwerden, Versinken im Pleroma, Vergehen im Lustmeer und Liebestod". (vgl. Neumann, 1949a, S. 31) Als kollektives oder mythologisches Phänomen dieses Uroboros-Inzests sieht Neumann unterschiedlichste Formen der Sehnsucht, auch der Todesromantik und regressive Formen der "unio mystica". Beim labilisierten oder erkrankten Ich kann diese Form des Inzests mit völliger Aufgabe der Eigenverantwortung einhergehen, z. B. nach einer Sucht oder im > Suizid.

2. Matriarchaler Inzest: Die Beziehung zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten bzw. dem Selbst, ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ich-Bewusstsein - im mythologischen Bild gesprochen - das Stadium des "Jünglings-Geliebten" erreicht hat. Dieses Ich ist zwar in gewisser Weise eigenständig und aktiv, steht aber noch unter der Dominanz des Archetyps der Großen Mutter (> Mutter, Große). Entwicklungspsychologisch (> Entwicklungspsychologie) handelt es sich hier um einen Symbiose-Autonomie-Konflikt. Das Ich-Bewusstsein vermag zwar zwischen Ich und Du zu unterscheiden, erlebt das Du aber noch als übermächtig, ist auf es angewiesen und wehrt sich zugleich gegen die Abhängigkeit. Es beginnt, seine eigene sich entfaltende und zunehmende > Sexualität, > Aggression und Aktivität lustvoll zu erleben, es übt sich motorisch und intellektuell. Deshalb kann bzw. will es sich dem Unbewussten als der Großen Mutter oder dem Uroboros nicht mehr passiv hingeben, sondern beginnt es in seiner Übermächtigkeit zu fürchten. Unbewusstwerden, z. B. Schlaf, wird ambivalent erlebt: als Niederlage und Verlust, als Tod und Kastration > Kastration/Kastrationskomplex, aber durchaus auch noch als angenehm und regenerierend.

3. Heldeninzest: Wenn sich das Ich, mythologisch-symbolisch formuliert, über das Stadium des Jünglingsgeliebten und des Widerstrebenden zu einem Helden-Ich entwickelt, also eine relative Autonomie gegenüber dem Unbewussten erreicht hat, kann es in seine Kraft vertrauen. Es kann sich damit aber auch wieder ins Unbewusste fallenfallen oder vorübergehend aufgeben. Es kann Regression bewusst anstreben und herbeiführen, symbolisch gesprochen, den Heldeninzest, den]] > Hierosgamos, die Coniunctio > (Coniunctio/Mysterium Coniunctionis) vollziehen. Das Ich-Bewusstsein sucht dann die schöpferische, dialektische Beziehung (> Prozess, dialektischer) zum Unbewussten. Es sucht den vorübergehenden "Ich-Tod", um eine > Wiedergeburt und Neuschöpfung zu erfahren. Der Heldeninzest ist die Überwindung der Angst, durch das Unbewusste dauerhaft aufgelöst zu werden, selber unbewusst zu werden und zu bleiben. der > Drachenkampf und die Nachtmeerfahrt sind Varianten dieses Motivs.

Je nach Entwicklungsstand des Ichs und seiner Beziehung zum Unbewussten bzw. zur Großen Mutter, zum Großen Vater (> Vater, Großer) und zum Kollektiv wird der Heldeninzest unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Neumann unterscheidet drei Formen. Gemeinsam ist allen dreien, dass sich das bewusste Ich in Beziehung setzen kann zu seinem schöpferischen und tragenden Urgrund. Das Ich des Heldeninzests ist extravertiert das Ich der Tat, ein Befreier, Führer, Gründer, der die Welt verändert. Introvertiert orientiert, ist dieses Ich ein Kulturbringer, Bote von Wissen und Weisheit. Die dritte Form des Helden-Ichs geht die Verbindung zum Unbewussten nicht ein, weil es sich mit dem Kollektiv auseinandersetzt und um des Kollektivs willen handelt, sondern weil es sich primär selber wandeln will und dabei auch die Welt verwandelt.

Literatur: Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins.

Autor: A. Müller