Kindheit/Kindheitsphasen
Keyword: Kindheit / Kindheitsphasen
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Definition: Die > Psychoanalyse teilt wie die > Entwicklungspsychologie die Kindheit in einzelne Phasen ein. Die Einteilung S. Freuds in orale, anale, phallisch-ödipale bzw. genitale Phase (> Triebentwicklung, Phasen der) ist inzwischen vielfach modifiziert oder korrigiert u. a. durch M. Klein, M. Mahler, D. Stern (> Kinderpsychotherapie, analytische > Kleinianische Psychoanalyse > Ich-Psychologie > Objekt > Objektbeziehungstheorie > Objektkonstanz) sowie durch kulturgeschichtliche und pädagogische Erkenntnisse erweitert worden vor allem von E. Neumann, E. Erikson, D. W. Winnicott (> Bewusstseinsentwicklung > Ich-Selbst-Achse > Übergangsobjekt).
Information: Auch wenn die individuelle Entwicklung von Kindern sehr unterschiedlich verläuft, können doch typische Entwicklungsschritte festgestellt werden (vgl. Nissen, 1989). Das erste Lebensjahr kann als Stadium der Kontaktaufnahme beschrieben werden (> Automorphismus > Säuglingsbeobachtung > Säuglingsforschung > Symbiose > Urbeziehung > Uroboros). Das neugeborene Kind verfügt über erstaunliche Fähigkeiten der Wahrnehmung äußerer und innerer Reize sowie der eigenen Aktivität, mit der es zur Umgebung Kontakt aufnimmt. Im Kontakt zur Mutter, die sich dem Kind emotional "good enough" (Winnicott) zuwenden kann, erlebt das Kind Geborgenheit und Sicherheit in der Beziehung und entwickelt das notwendige "Urvertrauen" (Erikson) gegenüber Menschen und Welt. Ist die Mutter zu dieser Zuwendung nicht in der Lage können, wenigstens teilweise, andere Beziehungspersonen an ihre Stelle treten. Bei einem deutlichen Mangel an emotionaler Zuwendung können psychische und psychosomatische Störungen, eine "Störung“ der > Urbeziehung" mit "primärem Schuldgefühl" (> Not-Ich > Schuldgefühl > Urschuld) oder ein "Urmisstrauen" (Erikson) auftreten. Im zweiten und dritten Lebensjahr, dem Stadium der "motorischen Integration" (> Integration > Zentroversion), wird in der Regel der aufrechte Gang sowie die Beherrschung der Ausscheidungsfunktionen erreicht, wichtige Ziele der körperlichen und psychischen Gesamtentwicklung, die eine wesentliche Erweiterung der Wahrnehmung und des Kontakts und der > Autonomie mit sich bringen. Ein weiteres, wichtiges Ziel dieser Phase ist die wachsende Fähigkeit zu Aufnahme, Nachahmung und Erlernen der Sprache sowie die Entwicklung der Denkfunktion und des Gedächtnisses. Durch die Beherrschung der Motorik und der Sprache erlebt das Kind eine deutliche Zunahme des Gefühls der eigenen Macht bis hin zu "Omnipotenzgefühlen" (> Anthropozentrismus > Größenfantasien > Narzissmus), die dem Kind nun ermöglichen, sich gegen die Forderungen der Mutter oder anderer Menschen zu wenden. Durch die zunehmenden aggressiven Impulse kann es dann zu Machtkämpfen (> Macht > Kastration) kommen (Trotzphase) oder zu einer Entwicklungsstörung, die von dem Gefühl der Unterlegenheit und der mangelnden eigenen Stärke gekennzeichnet ist. Das vierte bis fünfte Lebensjahr wird als Stadium der "kritischen Realitätsprüfung" (> Realitätsprüfung) bezeichnet, die Kinder werden zunehmend realistischer - auch wenn immer noch ein großer Teil des Erlebens und Verhaltens des Kindes von der schöpferischen > Fantasie bestimmt ist. Diese Fantasietätigkeit spielt für die Entwicklung des Denkens (> Denken/Denkfunktion) (> Fantasiedenken/gerichtetes Denken), der Intelligenz, aber auch der > Intuition und der psychischen Gesamtentwicklung eine zentrale Rolle. So zeigt auch das > Spielen und Gestalten des Kindes in dieser Phase die Bedeutung der Fantasietätigkeit: Im Rollenspiel kann es sich einerseits mit Helden (> Heldenmythos > Heros-Prinzip) identifizieren und seine Unterlegenheit und Kleinheit kompensieren, andererseits lässt das Spiel den aggressiven (> Aggression) und teilweise destruktiven Impulsen (> Gewalt > Hass) Raum. Zur Wahrnehmung der Umgebung - es ist geradezu von einer "Entdeckungslust" des Kindes zu reden - gehört das Vergleichen bzw. Rivalisieren (> Rivalität) mit anderen Kindern, aber auch das gemeinsame Spiel und das Entstehen von Freundschaften. Weiteres wichtiges Ziel in diesem Stadium ist die Wahrnehmung des Geschlechtsunterschieds (> Geschlecht > Geschlechtsidentität) bzw. das Erleben sexueller Impulse und sexuellen Lustgewinns (> Sexualität). Die Feststellung des Kindes, wie Vater oder Mutter zu sein und der Vergleich mit anderen Kindern ist wichtig für die eigene > Identifikation und Geschlechtsrolle. In der "ödipalen" Konfliktsituation (> Ödipuskomplex) kommt es zur Zuneigung zum gegengeschlechtlichen und zur Ablehnung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Gelöst wird dieser ödipale Konflikt - nach Freud der Grundkonflikt der psychischen Entwicklung - durch Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil - wenn es gut geht. Diese Auffassung wird zwar heute noch geteilt, doch werden z. T. weitere Aspekte, wie der, der notwendigen, Abgrenzung von beiden > Eltern und der Entwicklung altersentsprechender Selbstständigkeit, gerade auch in dieser Phase besonders betont. Ab dem sechsten Lebensjahr wird vom Stadium der "sozialen Einordnung" gesprochen: Im Kindergarten und erst recht in der Schule öffnet sich die Welt des Kindes. Es sieht sich außerfamiliären Situationen (> Familie > Gesellschaft > Kollektiv) mit Erwachsenen und anderen Kindern gegenüber. Eine gewisse Anpassungs- und Einordnungsfähigkeit ist für die Schulreife erforderlich (> Anpassung). Trennungsängste (> Drachenkampf > Weltelterntrennung/Trennung der Ureltern) - auch vonseiten der Eltern - und eine mangelnde Autonomieentwicklung kann diese Öffnung nach außen erschweren oder verhindern und führt u. U. zu einem Trennungskomplex (> Komplex) bzw. Verhaltensauffälligkeiten in der Schule.
Die > Analytische Psychologie hat einige wichtige Aspekte zum Verständnis der Kindheit beigetragen. Neben C. G. Jung sind vor allem E. Neumann, F. Wickes, D. Kadinsky und M. Fordham zu nennen. Für die frühe Kindheitsphase hat Jung den engen Zusammenhang zwischen Kind und Eltern, unter dem Stichwort "unbewusste Identität", (> Identität > Participation mystique) beschrieben. Für ihn stellt sich die "frühinfantile Psyche als Teil der väterlichen bzw. mütterlichen Psyche dar". Bleibt dieser enge Zusammenhang erhalten, verhindert dies die zweite Phase der Kindheitsentwicklung, nämlich die > Bewusstseinsentwicklung, in der das Kind anfängt, Ich zu sagen und so allmählich eine Bewusstseinskontinuität entsteht. Während die Eltern anfangs archetypisch (> Archetyp > Eltern > Mutter, Große > Vater, Großer) erlebt werden - unter den Bildern des Mütterlichen und Väterlichen, die als Niederschlag der Erfahrungen der Menschheit zu den tiefsten Inhalten der menschlichen Seele gehören - werden sie dann zunehmend als individuelle Menschen erlebt und damit auch "relativiert". Allerdings bleiben die archetypischen Bilder von Mutter und Vater erhalten und für die weitere seelische Entwicklung von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang spricht Jung davon, dass die unbewusste Einheit mit den Eltern aufgegeben werden muss, um den Prozess der > Individuation (> Individuationsprozess > Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte) einzuleiten.
Literatur: Erikson, E. H. (1966): Identität und Lebenszyklus; Flammer, A. (2009): Entwicklungstheorien; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse; Neumann, E. (1963): Das Kind.
Autor: K. Aichele